Er sitzt schweigend in der Mitte und macht sich Notizen. Mehr als drei Stunden lang hört sich Frankreichs Präsident Emmanuel Macron am Dienstagnachmittag in einer Turnhalle die Sorgen und Klagen von 600 Bürgermeistern aus der Normandie an. Die Lokalpolitiker erheben bittere Vorwürfe. Sie fühle sich von der Regierung in Paris verachtet, sagt eine. Die Situation in den Schulen habe sich durch Macrons Politik verschlechtert, sagt die Nächste. Und einer wirft dem Präsidenten vor, sich widersprüchlich zu verhalten, weil er einerseits sage, man könne über alles reden, sich gleichzeitig aber weigert die Reichensteuer wieder einzuführen. Die 3700-Einwohner-Gemeinde Grand Bourgtheroulde in der Normandie wurde am Dienstag zur Bühne für den Beginn der von Macron angestoßenen "großen nationalen Debatte", die das Land aus der Krise führen soll. Macron reagiert mit der Debatte, die zwei Monate lang dauern soll, auf die Protestbewegung der Gilets jaunes, die seit Mitte November das politische Leben in Frankreich dominiert.
Macron scheut sich dabei nicht, auf große historische Vorbilder zurückzugreifen. "Cahier de doléances", Beschwerdehefte, heißen die Unterlagen, die seit Dezember in Rathäusern in ganz Frankreich ausliegen. Die Wut, die die Gilets jaunes auf die Straße gebracht hat, soll dort gesammelt und notiert werden. Deutlich berühmter als die "Cahier de doléances" der Ära Macron sind die Hefte selben Namens, die in den Vormonaten der französischen Revolution ausgefüllt wurden. 1789 forderte Frankreichs damaliger König Ludwig XVI die Bürger auf, ihre Wünsche und Nöte zu notieren. Der dadurch angestoßene Reflexions- und Politisierungsprozess gilt als Mitauslöser der französischen Revolution.
Wie man seit Erscheinen seines Buches "Revolution" weiß, wünscht auch Macron den Umbruch. Wenn auch mit weniger dramatischem Ausgang als zu Zeiten Ludwigs XVI. Am Dienstag zeigte sich Frankreichs Präsident jedenfalls von der aktuellen Krise des Landes beflügelt. Über die Bewegung der Gelbwesten sagte er, sie stelle eine "Chance dar, damit wir stärker und grundlegender reagieren können".
Die meisten Bürger glauben nicht, dass die Debatte die Krise überwinden kann
Der Beginn der sogenannten großen Debatte wurde vor allen Dingen von einer Debatte über die Debatte begleitet. Die Opposition wirft der Regierung vor, dass die groß angelegte Volksbefragung nicht den von Macron selbst angelegten Kriterien der Unabhängigkeit genüge. Die zwei hauptverantwortlichen Organisatoren des "grand débat" sind der Minister Sébastien Lecornu und die Staatssekretärin Emmanuelle Wargon. Diese Personalentscheidung führte zu dem Vorwurf, dass die Regierung versuche, den Inhalt der Debatte zu kontrollieren. Für weiteren Ärger sorgte eine Bemerkung, die Macron am Dienstag bei einem Überraschungsbesuch im Gemeinderat des Ortes Gasny machte. Menschen in finanziellen Schwierigkeiten müssten dazu gebracht werden sich "verantwortlich zu verhalten". Es gäbe "Menschen in Schwierigkeiten, die "Gutes tun und andere, die Mist bauen". Die Bemerkung wurde in den sozialen Netzwerken als Beleg dafür herangeführt, dass der Präsident die Armen verachte. Es ist ein Vorwurf, der Macron immer wieder gemacht wird. In der live im Fernsehen übertragenen Turnhallen-Debatte sprach Macron seine aktuell geringe Popularität direkt an: "Es ist Teil unserer DNA, immer einen Schuldigen zu suchen, und ich scheine diese Rolle voll auszufüllen." Unter dem wohlwollenden Gelächter der Bürgermeister zeigte er sich kampfeslustig, konzentriert und bemühte sich, alle Fragen zu beantworten.
In einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Opinionway zeigten sich die Franzosen am Montag noch eher skeptisch gegenüber der großen Debatte. 67 Prozent der Befragten gaben an, dass sie nicht glauben, dass die Debatte dabei helfen werde, die durch die Gelbwesten ausgelöste Krise zu überwinden. 52 Prozent gaben an, dass sie nicht vorhätten, sich selbst an der Debatte zu beteiligen.
Gleichzeitig sind die Zustimmungswerte für die Bewegung der Gilets jaunes wieder angestiegen. Nachdem am vergangenen Wochenende in ganz Frankreich 90 000 Menschen in Warnweste auf die Straße gegangen waren, ohne dass es zu größeren Ausschreitungen gekommen wäre, zeigten sich die nicht-demonstrierenden Franzosen wieder überzeugter von den Gelbwesten. In einer Umfrage des Fernsehsenders BFM gaben 36 Prozent der Befragten an, die Bewegung zu unterstützen. Weitere 31 Prozent sagten, dass sie den Gilets jaunes Sympathien entgegenbrächten.