Süddeutsche Zeitung

Frankreich:Warnsignale von unten

Ein kluger Sammelband beleuchtet den "Gelbwesten"-Protest und rückt einige falsche Behauptungen über die Bewegung zurecht.

Von Rudolf Walther

Nicht nur Bernd Riexinger, einer der beiden Vorsitzenden der Linkspartei, hielt die französische Protestbewegung "Gilets jaunes" ("Gelbwesten") vorübergehend für eine vom rechtsextrem-nationalistischen Rassemblement National (RN), der Partei von Marine Le Pen, dominierte Protestbewegung. Mit dieser könne man, so Riexinger, keine "Kumpanei" machen. Riexinger wurde wie viele zum Opfer einer - gelinde gesagt - einseitigen Information durch viele deutsche Medien. In diesen wurde der spontane Protest gegen Benzinpreiserhöhungen, an dessen Rändern auch Le Pen-Wähler agierten und in dessen Verlauf es vereinzelt antisemitische Übergriffe gab, etwa gegen den Philosophen Alain Finkielkraut, verkürzt als Aufruhr von rechts dargestellt.

Der verdienstvolle Sammelband von Peter Wahl mit fünf Beiträgen französischer Aktivisten und Sozialwissenschaftler sowie dem Bremer Emeritus Lothar Peter rückt die medial verzerrte Darstellung des Protests ebenso zurecht wie der Parteivorstand der Linkspartei am 8. Dezember 2018 seinen Ko-Vorsitzenden Riexinger mit der Erklärung korrigierte: "Die Linke solidarisiert sich mit den sozialen Protesten der Gelbwesten in Frankreich. Ihr Widerstand gegen den neoliberalen und autoritären Kurs des französischen Präsidenten ist berechtigt". Den nicht genau bezifferbaren Anteil von "Gilets-jaunes"-Anhängern, die bei den Wahlen zum Europaparlament ihre Stimme RN-Kandidaten gegeben haben könnten, erklärt Peter plausibel mit dem Argument, das Hauptmotiv der "Gelbwesten", dem Präsidenten Emanuel Macron zu schaden, habe diese zur schrägen Wahlentscheidung motiviert und nicht Sympathie mit den Rechten.

Drei Forderungen sind es, die die Bewegung zusammenhalten

Dass die Protestbewegung, die im November 2017 begann, über ein halbes Jahr sehr stark war und dann an Bedeutung verlor, hat alle Beobachter überrascht, denn in der Regel geht solchen spontanen Bewegungen die Luft schneller aus. Die Meinung des Herausgebers, der Protest habe "die sozialpolitischen Verhältnisse nach links verschoben", teilen nicht alle Autoren. Aber sicher hat der Protest die Beliebtheit von Präsident Macron und seiner neoliberalen Reformpolitik entscheidend geschwächt. Mit der aktuellen Rentenreform geht der Präsident deshalb auch viel langsamer und vorsichtiger ans Werk als mit der Arbeitsrechtsreform zu Beginn seiner Amtszeit.

Die "Gelbwesten" haben nach wie vor kein Programm, keine fixierte Organisationsstruktur und keine ernannten oder selbsternannten Sprecher. Aber an ihren Forderungen und ihren Aktionsformen, die Patrick Farbiaz und Marie-Dominique Vernhes kenntnisreich beschreiben, sind drei Schwerpunkte ablesbar: der Wunsch nach mehr Steuergerechtigkeit, der nach einer Ergänzung der repräsentativen Demokratie durch plebiszitäre und deliberative Elemente ("Referendum à l'Initiative Citoyenne", RIC) sowie der nach einem Abbau von Privilegien der politischen Klasse. Diese drei Forderungen erklären auch, warum sich in Umfragen von Anfang an eine starke Mehrheit der Bevölkerung mit der "Sammlungsbewegung von unten" (Patrick Farbiaz) solidarisierte, aber Parteien und Gewerkschaften eher unentschieden blieben in ihren Stellungnahmen.

Darin drückt sich ebenso das tiefe Misstrauen der Bevölkerung gegen die Institutionen und Praktiken der V. Republik aus wie schon bei der überraschenden Wahl des Quereinsteigers Macron zum Präsidenten. Diese Wahl Macrons wie kurz danach die Popularität der Protestbewegung gegen ihn sind Indizien für "die Verunsicherung" (Peter Wahl), die das Land erfasst hat. Der schmale Band orientiert vorzüglich über eine unter- und vor allem falschbelichtete soziale Bewegung.

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Quelle:
SZ vom 14.10.2019
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