Mord an Lehrer nahe Paris:Getötet, weil er die Freiheit lehrte

Mord an Lehrer nahe Paris: Trauernde haben vor dem Eingang der Schule in Conflans-Sainte-Honorine Blumen für den getöteten Lehrer niedergelegt.

Trauernde haben vor dem Eingang der Schule in Conflans-Sainte-Honorine Blumen für den getöteten Lehrer niedergelegt.

(Foto: AP)

Der Mord an einem Lehrer trifft Frankreich ins Herz: Ein Angriff auf die Schule ist ein Angriff auf die Republik - deren Freiheitswerte von einigen immer offener in Frage gestellt werden. Inzwischen sind mehr Details über den mutmaßlich islamistischen Täter bekannt.

Von Leo Klimm, Paris

Samuel Paty war Geschichtslehrer und wollte seinen Schülern beibringen, was Meinungsfreiheit bedeutet. Anfang Oktober hatte er seinen Achtklässlern am "Collège du Bois d'Aulne" Mohammed-Karikaturen gezeigt. Politische Zeichnungen mit Schockpotenzial, besonders für Muslime, aber nicht nur für Muslime. Zeichnungen, die Islamisten seit Jahren als Vorwand dienen, in Frankreich und anderswo Menschen zu töten.

Paty, 47 Jahre alt, wollte seine Schüler lehren, dass man so etwas aushalten muss, weil Meinungsfreiheit, einschließlich der Freiheit der Religionslästerung, ein Grundwert der französischen Demokratie ist. Seit dem Anschlag auf die Redaktion der Satirezeitschrift Charlie Hebdo im Januar 2015 werden die Lehrer vom französischen Schulministerium mit Nachdruck angehalten, diese Werte im Unterricht zu behandeln.

Am späten Freitagnachmittag, die Herbstferien hatten gerade begonnen, wurde Paty auf seinem Heimweg getötet - wie es aussieht, weil er genau dieser Aufgabe folgte. Ein mit einem 35 Zentimeter langen Küchenmesser bewaffneter Mann schnitt dem Familienvater die Kehle durch, auf offener Straße, ganz in der Nähe des Bois-d'Aulne-Gymnasiums von Conflans-Sainte-Honorine, einem Vorort knapp 30 Kilometer nordwestlich von Paris.

"Einer unserer Mitbürger ist ermordet worden, weil er sich bei Schülern für die Meinungsfreiheit eingesetzt hat", sagt Staatspräsident Emmanuel Macron, als er am Freitagabend den Tatort aufsucht. Der Staatschef wirkt beklommen, und er legt sich schnell fest: Der Lehrer sei "eindeutig einem islamistischen Terrorattentat" zum Opfer gefallen. Der Angreifer Abdoullakh A., ein 18-jähriger Russe tschetschenischer Herkunft, ist zu diesem Zeitpunkt schon tot, niedergeschossen von einem Einsatzkommando der Polizei. Er lebte mit seinen Eltern in der Stadt Evreux in der Normandie. Das ist etwa 100 Kilometer vom Tatort entfernt.

Das Attentat erschüttert Frankreich, wieder einmal. Einige Fragen zur Festigkeit des Fundaments, auf dem doch alle Bürger stehen sollten, treiben das Land jetzt besonders um: Wurde einem fanatisierten Attentäter ideell der Boden bereitet von Menschen, die selber die Werte der Republik nicht akzeptieren, wenn diese Werte vermeintlich in Konflikt mit dem Islam geraten? Konkret: Welche Rolle spielt der Protest, den Eltern muslimischer Schüler in den Tagen nach Patys umstrittenem Karikaturen-Unterricht an die Schulleitung herangetragen und ins Internet hineingetragen hatten?

Macron: "Sie werden uns nicht spalten"

Der Mord von Conflans-Sainte-Honorine gehört in der langen Serie von Attentaten, die Frankreich seit Jahren erlebt, zu den symbolisch und emotional besonders aufgeladenen Taten. Der Angriff trifft das Land ins Herz. Denn die tödliche Attacke auf einen Lehrer wirkt wie ein Attentat gegen die Institution Schule an sich, das Fundament der Republik, das im französischen Staatsverständnis für die demokratische Integration von Menschen jeder Herkunft und Religion sorgt. "Sie werden nicht durchkommen", sagt Macron, und es klingt wie eine Beschwörung. "Sie werden uns nicht spalten."

Die Stimmung im Land ist wegen der Corona-Pandemie ohnehin gedrückt, seit diesem Wochenende sind die Freiheitsrechte durch eine nächtliche Ausgangssperre in den Großstädten eingeschränkt. Nun meldet sich auch noch der islamistische Terror zurück, der seit 2015 259 Menschen in Frankreich das Leben gekostet hat. Die grausame Tat von Conflans erinnert die Franzosen daran, dass die Terrorgefahr von innen, die durch Corona in den Hintergrund gedrängt worden war, unverändert hoch ist.

Daran, dass Menschen im Namen des Islam immer wieder morden oder es zumindest versuchen. Auch solche Menschen, die der Polizei bisher nicht als radikalisiert aufgefallen waren und solche, die keine Anleitung durch ausländische Terrororganisationen wie den sogenannten Islamischen Staat (IS) oder al-Qaida brauchen, um zur Tat überzugehen. Erst vor drei Wochen hatte ein aus Pakistan stammender Mann vor den früheren Redaktionsräumen von Charlie Hebdo zwei Menschen mit einem Beil schwer verletzt. In seinen Vernehmungen gab er an, er habe gegen die Wiederveröffentlichung der Mohammed-Karikaturen protestieren wollen. Das Satireblatt hatte die Zeichnungen zum Auftakt des Charlie-Hebdo-Prozesses, der zurzeit läuft, erneut gedruckt.

Nicht selten spielen bei den Attentaten auch Islamismus und soziale Netzwerke aufs Übelste zusammen. So ist es auch beim mutmaßlichen Attentat von Conflans-Saint-Honorine.

In seinem Unterricht hatte Samuel Paty Karikaturen aus Charlie Hebdo gezeigt, berichtete der Pariser Antiterror-Staatsanwalt Jean-François Ricard am Samtsganachmittag seine ersten Ermittlungsergebnisse. "Thema des Unterrichts war die Meinungsfreiheit und ihre Grenzen", so Ricard. Eine der Zeichnungen stellte Mohammed nackt dar. Der Prophet kauert darauf betend am Boden, sein in die Höhe gestreckter Hintern ist mit einem Stern verdeckt. Darüber steht: "Mohammed: Ein Stern ist aufgegangen."

In den Tagen danach meldeten sich mehrere Eltern bei der Schulleitung, um sich über Patys Karikaturen-Unterricht zu beschweren. Ein Vater zeigte sich besonders empört. Er forderte die Schuldirektorin auf, Paty zu entlassen und erstattete sogar Anzeige bei der Polizei - wegen der vermeintlichen Verbreitung von Pornografie im Unterricht. Vor allem aber stellte dieser Vater einer 13-jährigen Schülerin über Facebook und Youtube mehrere Videos ins Netz, um Paty anzuprangern. Darin bezeichnete er Paty als "Gauner" und forderte dazu auf, die Aufnahmen weiterzuverbreiten. Und: In einer seiner Videobotschaften nennt der Mann die genaue Anschrift des Gymnasiums, den Namen Samuel Patys und ruft, verklausuliert und doch unmissverständlich, dazu auf, den Lehrer abzustrafen.

Offenbar kannte der Mörder das Video. Ab Freitagmittag jedenfalls lauerte er nach Angaben des Staatsanwalts vor dem Gymnasium darauf, Paty abzupassen. Er hatte den Lehrer nie gesehen, wusste nicht, wie Paty aussah - aber er hatte dank des Videos des empörten Vaters den Namen. "A. fragte mehrere Schüler vor dem Ausgang, damit sie ihm Paty zeigten", sagte Ricard. Bis er jenen Lehrer ausgemacht hatte, an dem er sich rächen würde.

A. wurde 2002 in Moskau geboren und war den französischen Behörden bisher nicht als radikalisierter Muslim aufgefallen. Wohl aber als gewalttätig. Eine Halbschwester A.s schloss sich 2014 dem IS in Syrien an und ist von der französischen Behörden zur Fahndung ausgeschrieben. In Conflans soll Patys Mörder am Freitag Zeugen zufolge "Allahu Akbar" gerufen haben. Er wurde mit neun Schüssen von einem Einsatzkommando niedergestreckt, als die Polizisten ihn stellen wollten. Der Mann habe die Beamten mit einem Messer bedroht, so Staatsanwalt Ricard, und habe weitere Waffen bei sich getragen, unter anderem ein sogenanntes Airsoft-Gewehr.

Kurz nach dem Attentat verbreitete A. auf dem Kurznachrichtendienst Twitter eine grausame Nachricht. Sie zeigte Patys abgetrennten Kopf. Dies sei die Rache an dem, "der es gewagt hat, Mohammed zu erniedrigen", schrieb der Attentäter in der Nachricht dazu, in der außerdem Präsident Macron als "Anführer der Ungläubigen" bezeichnet wurde. Der Twitter-Account wurde schnell gesperrt.

Die Ermittler sind nun auf der Suche nach möglichen Komplizen oder Mitwissern. Bis Samstagvormittag hat die Polizei neun Personen in Gewahrsam genommen. Unter ihnen befinden sich die Eltern und Großeltern des Täters. Auch der Vater der Schülerin, der sein Wutvideo ins Netz gestellt hatte, wird vernommen.

Unterrichten wird zur Mutprobe

Frankreich ist tief verunsichert - am meisten vielleicht seine Lehrer, es wäre allzu verständlich. Die Tötung des Kollegen Paty wirke wie eine massive Einschüchterung, heißt es bei den französischen Pädagogenverbänden. Sie fragen, wer die Mutprobe, die Freiheitsprinzipien der Republik zu unterrichten, jetzt noch auf sich nehmen soll. Seit Jahren sind Frankreichs Lehrer immer wieder mit Eltern konfrontiert, die ihren Kindern unter Hinweis auf religiöse Gründe die Teilnahme am Sport- oder am Biologieunterricht verbieten.

Das ist, was Macron "islamistischen Separatismus" nennt. Erst vor ein paar Tagen hielt der Präsident eine Grundsatzrede dazu, wie er diesen Abspaltungstendenzen im eigenen Land begegnen will. Nach der Bluttat von Conflans versichern er und seine Minister die Lehrer nun unaufhörlich der Solidarität, die das ganze Land für sie habe. Liberale Imame verurteilen die Attacke und erklären, Mohammed-Karikaturen seien selbstverständlich mit dem Islam vereinbar.

In Conflans-Saint-Honorine und an vielen anderen Orten im Land versammeln sich Menschen, um Paty zu gedenken. Für diesen Sonntag ist eine Kundgebung in Paris geplant - auf dem Place de la République. Natürlich ist auch längst ein politischer Deutungskampf um das Attentat entbrannt: Marine Le Pen, Chefin der rechtsextremen Partei Rassemblement National, fordert, den Islamismus "mit Gewalt aus unserem Land zu vertreiben" - als sei er nicht auch ein Hausmacher-Produkt der französischen Gesellschaft selbst.

Samuel Paty, so will es Macron, soll nächste Woche in einem Staatszeremoniell als Held geehrt werden. "Der Obskurantismus und die Gewalt werden nicht siegen", sagt der Staatschef. Er ist mittendrin, im Kampf gegen den Separatismus.

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Frankreich
:Tödliches Attentat bei Paris

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