Jedem Ende wohnt ein Anfang inne, das ist auch diesmal so, mit dem Aus der Regierung Barnier in Paris. Nach nur wenigen Monaten im Amt muss Emmanuel Macrons Kompromisskandidat als Premierminister aufgeben. Er ist gescheitert mit dem Versuch, Frankreichs Staatsfinanzen in Ordnung zu bringen, den Bürgern eine Mischung aus Steuererhöhungen und Budgetkürzungen abzuverlangen und dem Land einen Weg zu ebnen aus der ausufernden Verschuldung. Zu sparen, das ist in Frankreich ohnehin schwierig, für eine Regierung ohne Mehrheit ist es kaum möglich. Nun war es selbst für den Brüsseler Veteranen und in den Brexit-Verhandlungen gestählten Michel Barnier aussichtslos.
Schon als die Regierung auf ihr Ende zusteuerte, weckte das schlimme Erinnerungen. Es drängte sich ein Vergleich auf mit der Zeit vor bald 15 Jahren, als die Euro-Zone an den Rand des Zusammenbruchs geriet. Vor einer Woche musste Frankreich für seinen Schuldendienst erstmals mehr bezahlen als Griechenland, kurz nur, aber der Bezug war damit hergestellt: Würde es diesmal Frankreich sein, Europas zweitgrößte Wirtschaftsnation, von dem eine neue Euro-Schuldenkrise ausgeht? Löst die Regierungskrise in Paris ein Misstrauen aus, das in einer Kettenreaktion den Rest Europas erfasst? Kein Krisenfonds, kein Rettungsschirm wäre groß genug für Frankreich, Europas finanzielle Stabilität wäre unmittelbar bedroht und die Europäische Zentralbank als Retter in der Not so stark gefordert wie noch nie.
„Die Situation ist mit den frühen 2010er-Jahren nicht vergleichbar.“
Die Antworten auf diese Fragen fallen am Tag nach dem Sturz der Regierung vergleichsweise beruhigend aus. Abzulesen ist das an der Reaktion der Finanzmärkte: Weder sind die Zinsen französischer Staatsanleihen in die Höhe geschossen – sie sanken sogar –, noch gerieten französische Banken irgendwie unter Druck. Auf die Pariser Polit-Misere reagierten die Marktteilnehmer also mit einer Art offensiver Gelassenheit. Es gehört zur Natur dieser Märkte, dass alle möglichen Szenarien mit Wahrscheinlichkeiten versehen und Entwicklungen vorweggenommen werden. Dass Barnier mit seinen Sparvorschlägen erfolgreich sein würde, wurde mit jedem Tag weniger wahrscheinlich.
„Die Situation ist mit den frühen 2010er-Jahren nicht vergleichbar“, sagt Daniel Kral, Makroökonom von der Londoner Analysefirma Oxford Economics. Es sei zwar ein „fiskalisches und politisches Durcheinander“, allerdings passiere das in einer großen, stabilen und robusten Volkswirtschaft. Die Euro-Krisenländer hätten seinerzeit mit enormen Defiziten in der Leistungsbilanz zu kämpfen gehabt – ihre gesamte Wirtschaft war jeweils auf Finanzierung aus dem Ausland angewiesen. Als die versiegte, war die Krise akut. Das ist bei Frankreich heute anders. Und: „Die Nachfrage nach französischen Schuldenpapieren ist weiterhin groß“, sagt Kral, „nur verlangen Investoren jetzt eben ein wenig höhere Zinsen.“
Frankreich ist mit 112,2 Prozent seiner Wirtschaftsleistung verschuldet, in der EU belegt das Land damit Platz drei hinter Griechenland und Italien. Ohne Anpassungen ist jede Pariser Regierung gezwungen, Haushaltslöcher mit neuen Schulden zu stopfen. Im vergangenen Jahr stand eine Neuverschuldung von 5,5 Prozent zu Buche, 2024 dürfte das Defizit mehr als sechs Prozent erreichen und ohne Einsparungen sieben Prozent im kommenden Jahr. Die europäischen Stabilitätskriterien erlauben jeweils nur 60 und drei Prozent. Mit dem Versuch, sich wieder auf diese Werte zuzubewegen und die Neuverschuldung auf nur noch etwa fünf Prozent im kommenden Jahr zu begrenzen, ist Barnier jetzt gescheitert.
Die Unmöglichkeit, den Trend umzukehren, mag jetzt nicht zu einer akuten Krise führen. Neben der ausgeglichenen Leistungsbilanz sind die Steuereinnahmen stabil und Frankreichs Banken robust. Die Wirtschaft wächst in diesem Jahr um voraussichtlich gut ein Prozent. Und doch zeichnen sich langfristig gewaltige Probleme ab, für Frankreich, und in erster Ableitung für die EU.
Einer der wichtigsten EU-Mitgliedstaaten bleibt erst mal politisch instabil
Nachdem Barniers Haushalt gescheitert ist, droht dem Land jetzt zwar kein fiskalischer Lockdown – aber womöglich ein umso heftigerer Sparzwang. Analysten von Bloomberg Economics erklären das so: Die nächste Regierung müsste, wenn sie angesichts eines weiterhin blockierten Parlaments keinen neuen Haushalt für das kommende Jahr verabschieden kann, die Ausgaben zunächst nominal auf dem Niveau von 2024 deckeln. Das würde automatisch zu ungezielten, breiten Kürzungen führen, weil der Haushalt nicht an die Preisentwicklung angepasst werden kann. Zugleich führen die höheren Zinsaufschläge dazu, dass Frankreich mehr für seinen Schuldendienst bezahlen muss – was Ausgabenkürzungen an anderer Stelle noch dringlicher macht.
Auf europäischer Ebene macht Frankreichs Regierungskrise die Dinge ebenso komplizierter, nicht nur, weil einer der wichtigsten EU-Mitgliedstaaten mittelfristig politisch instabil bleibt und damit als Führungsnation ausfällt. Wenn Frankreich ein wenig seinen Haushalt konsolidiert und Deutschland seine Schuldenbremse reformiert, so hofften in Brüssel viele, würde das eine gemeinsame EU-Finanzierung wahrscheinlicher machen. Das hätte insbesondere die Diskussion um gemeinschaftliche EU-Schulden für Rüstungsausgaben erleichtert. „Diese Hoffnung ist jetzt erst einmal dahin“, sagt Sander Tordoir, Ökonom vom Thinktank Center for European Reform (CER). Nach der mühsam erreichten Neugestaltung der EU-Schuldenregeln, beschlossen in diesem Frühjahr, steht außerdem deren Glaubwürdigkeit gleich wieder infrage – man hatte sie vor allem deshalb reformiert, weil sie nie konsequent eingehalten wurden.
Die kurzfristigen Sorgen sind mithin eher struktureller Natur, sie betreffen den politischen Handlungsspielraum, nicht die Stabilität der gemeinsamen Währung. Die wichtigsten Ratingagenturen stufen Frankreichs Kreditwürdigkeit nach wie vor als gut bis sehr gut ein, und selbst schlechtere Bonitätsnoten wären noch kein Krisensignal. CER-Ökonom Tordoir formuliert eine Nautik-Metapher, um die Lage zu umschreiben: „Frankreich ist wie ein großes, ein stabiles Schiff“, sagt er. „Aber eines, das ohne funktionierenden Radar auf hoher See treibt.“ Nicht ausgeschlossen, dass dieses Schiff irgendwann doch in Seenot gerät.