Frankreich:"Meine größte Angst ist, nicht bis zur Rente durchzuhalten"

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Demonstranten marschieren am 31. Januar in Bayonne hinter der Aufforderung her, die "ungerechte Rentenreform" zurückzuziehen. (Foto: Robert Edme/DPA)

Die französische Regierung will das Renteneintrittsalter auf 64 Jahre erhöhen, der Widerstand ist groß. Dabei müssen andere Europäer noch länger arbeiten. Drei Franzosen erklären, wieso sie das nicht wollen.

Von Kathrin Müller-Lancé, Paris

Natürlich hat Virginie Léger schon gegen die Rentenreform gestreikt, und natürlich will sie das auch wieder tun. An diesem Nachmittag Ende Januar aber arbeitet sie, hier in der kleinen Fahrerkabine der Pariser Metrolinie 11. Den Plastiksitz hinter sich hat Léger nicht runtergeklappt, sie steht lieber.

Im Minutentakt lichtet sich das Dunkel des Tunnels vor ihr, dann kommt die nächste Station. Hôtel de Ville. Rambuteau. Arts et Métiers. Die Metrofahrerin muss bremsen, warten, bis die Leute eingestiegen sind, im Spiegel prüfen, dass auch niemand einen Fuß in der Tür hat, und wieder losfahren. Sechseinhalb Stunden dauert eine Schicht bei den Pariser Verkehrsbetrieben RATP durchschnittlich.

Eine Mittagspause gibt es nicht, nur kleinere Pausen zwischendurch. Zum Beispiel, um auf die Toilette zu gehen. "Können Sie sich vorstellen, dass man diesen Job bis Mitte sechzig macht? Ich nicht", sagt Léger. "Was Macron da plant, ist sehr, sehr ungerecht."

Mehr als zwei Drittel der Bevölkerung sind Umfragen zufolge gegen die Pläne

Die Reform des französischen Rentensystems ist das wohl heikelste Vorhaben in der zweiten Amtszeit von Präsident Emmanuel Macron. Die Pläne der Regierung sehen unter anderem vor, das Renteneintrittsalter von 62 auf 64 Jahre zu erhöhen und die Beitragsdauer auf 43 Jahre zu verlängern. Im Vergleich zu dem, was in anderen europäischen Ländern bereits gilt, klingt das wenig radikal. In Deutschland sollen die Menschen künftig bis 67 arbeiten, in den Niederlanden und in Italien womöglich sogar bis über 70.

In Frankreich ist der Widerstand trotzdem groß. Der Großteil der Opposition hat bereits angekündigt, in der Nationalversammlung gegen das Vorhaben der Regierung zu stimmen. Laut Umfragen sind mehr als zwei Drittel der Bevölkerung gegen die Pläne. Schon vor zwei Wochen streikten mehr als eine Million Menschen im ganzen Land, am Dienstag gab es wieder einen Generalstreik, und es gingen noch mehr Menschen auf die Straßen, 1,27 Millionen waren es. Metrostationen waren geschlossen, Züge fielen aus, in den Schulen, Rathäusern und Raffinerien des Landes legten die Französinnen und Franzosen ihre Arbeit nieder. Was macht sie so wütend?

"Meine größte Angst ist, nicht bis zur Rente durchzuhalten", sagt Metrofahrerin Virginie Léger. Sie ist jetzt 39. Nach der aktuellen Regelung könnte sie mit 54 in Rente gehen. Für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der RATP gilt ein sogenanntes régime spécial, eine Sonderregelung. Metrofahrer konnten bisher zum Teil schon mit 52 Jahren in Rente gehen. Wenn die Regierung ihre Reform durchsetzt, müsste Léger bis mindestens 58 arbeiten. Für alle, die künftig in den Beruf einsteigen, sollen die Sonderregelungen ganz wegfallen. Dann müssten Metrofahrer - wie alle anderen Berufsgruppen auch - bis 64 arbeiten.

"Dabei kann man unseren Beruf nicht mit anderen vergleichen", sagt Léger. Fast alle ihrer Kollegen hätten Probleme mit dem Rücken, viele eine Sehnenscheidenentzündung vom Betätigen der Bremse. Dazu das mangelnde Tageslicht, die schlechte Luft. Und die Arbeitszeiten: Wenn Léger die erste Metro um fünf Uhr morgens fahren muss, steht sie um 3.30 Uhr auf. Wenn sie die letzte Metro bis 1.30 Uhr fährt, ist sie nicht vor drei Uhr im Bett. "Ich habe mir diesen Job bewusst ausgesucht", sagt Léger, aber eben nicht für so viele Jahre, wie sich das nun Macron vorstellt.

"Reformen wie diese werden von Politikern an ihren Schreibtischen gemacht."

Die Krankenschwester Virginie Seguin hat seit Kurzem eine App auf dem Handy, die anhand ihres Alters und ihrer Beiträge berechnet, wann sie in Rente gehen kann. Nach der aktuellen Regelung wäre das mit 62. Wenn die Reform der Regierung durchgeht, kann auch sie erst mit 64 Jahren gehen - obwohl sie eigentlich schon vorher die notwendige Anzahl von Jahren in die Rentenkasse eingezahlt hat.

Auch sie verweist auf die Belastungen im Job. "Ich weiß nicht, wie lange mein Körper noch durchhält." Seit mehr als 20 Jahren arbeitet die 51-Jährige in der Uniklinik Pitié de la Salpêtrière im Pariser Süden. Seit mehr als zehn Jahren macht sie ausschließlich Nachtdienste, immer Zwölf-Stunden-Schichten von 19 bis 7 Uhr. Nach zwei Tagen Arbeit hat sie vier Tage frei. "Reformen wie diese werden von Politikern an ihren Schreibtischen gemacht", sagt Seguin. "Was das für uns in der Praxis bedeutet, wissen die Leute nicht."

Und die Tatsache, dass die Lebenserwartung insgesamt steigt? Dass die Menschen auch in anderen Ländern länger arbeiten müssen?

Frankreich mit anderen Ländern zu vergleichen, findet Seguin zu oberflächlich. In anderen Ländern sei auch der Kontext ein anderer, in Deutschland sei zum Beispiel die Geburtenrate niedriger als in Frankreich. Und: Nur weil es ist anderen Ländern noch schlechter ist, müsse es ja nicht in Frankreich gleich schlecht werden.

Sie sagt aber auch: "Vielleicht ist das auch ein sehr französisches Ding, dass wir unsere Privilegien behalten wollen." In den Achtzigerjahren führte der sozialistische Präsident François Mitterrand die Rente ab 60 ein, seitdem galt der frühe Renteneintritt in Frankreich als soziale Errungenschaft. Als Premierminister Alain Juppé 1995 viele Sonderregelungen abschaffen wollte, waren die Proteste so groß, dass er seine Pläne zurückzog. Als Präsident Sarkozy 2010 das Renteneintrittsalter auf 62 Jahre erhöhte, ging auch das nur unter großen Protesten.

Manche fordern höhere Beiträge der Arbeitgeber oder eine Übergewinnsteuer

"Wir streiken nicht einfach, um zu streiken", sagt die Grundschullehrerin und Gewerkschafterin Kahina Seghir. "Wir haben ein wirkliches Anliegen." Seghir ist 50 Jahre alt, schon jetzt tun ihr die Knie weh, wenn sie die die Treppen in ihrer Pariser Schule hoch- und runterläuft. Bis Mitte sechzig zu arbeiten, kann sie sich im Moment nicht vorstellen. Bei der Arbeit mit kleinen Kindern sei es immer laut, sagt sie, ständig müsse sie verfügbar sein, Verantwortung tragen. "Ich habe keinen Moment für mich allein. Das wird mit zunehmendem Alter immer anstrengender."

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Seghir steht hinter der Forderung ihrer Gewerkschaft CGT, die eine Rente ab 60 für alle will und die Beibehaltung der Sonderregelungen für einzelne Berufsgruppen. Das langfristige Defizit, das ein von der französischen Regierung beauftragtes Expertengremium vorgerechnet hat, ließe sich ihrer Meinung nach auch mit anderen Maßnahmen verhindern. Durch höhere Beiträge der Arbeitgeber zum Beispiel und eine Übergewinnsteuer für Unternehmen.

Virginie Léger, die Metrofahrerin von der Pariser Linie 11, hofft, dass der Widerstand auf der Straße die Regierung noch zum Umdenken bringt. Wahrscheinlich ist das nicht, erst vor wenigen Tagen hat die französische Premierministerin Élisabeth Borne betont, dass das Renteneintrittsalter nicht verhandelbar sei. Das Argument der Regierung, mit der Lebenserwartung müsse eben auch das Rentenalter steigen, überzeugt Virginie Léger nicht: "Wenn wir mehr Lebenszeit gewinnen - warum sollen wir sie dafür nutzen, um mehr zu arbeiten?"

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