Regionalwahl in Frankreich:"Das politische System erscheint vielen als korrupt und undemokratisch"

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Wähler bei der Präsidentschaftswahl 2017. (Foto: FREDERICK FLORIN/AFP)

Ein Großteil der jungen Erwachsenen in Frankreich geht nicht mehr zur Urne. Wahlforscherin Anne Muxel erklärt, warum sie diese Generation trotzdem für sehr politisch hält.

Von Philippe Pernot

Rechtsruck und schwache Partizipation - der erste Wahlgang der Régionales in Frankreich am Sonntag wird zeigen, wie es um die Demokratie im Nachbarland steht. Anne Muxel ist Forschungsdirektorin für Soziologie und Politikwissenschaft am CEVIPOF (Zentrum für politische Forschung der Sciences Po). Sie hat jahrzehntelang Französinnen und Franzosen zwischen 18 und 25 Jahren befragt, wie sie zu Wahlen stehen.

SZ: Frau Muxel, fühlen sich die jungen Wählerinnen und Wähler von den Themen, die im Wahlkampf dominiert haben, angesprochen?

Anne Muxel: Ganz klar: nein. Bei den vergangenen Regionalwahlen 2015 sind drei Viertel der jungen Wahlberechtigten zwischen 18 und 25 nicht zur Wahl gegangen, dieses Mal dürfte es wieder so sein. Die großen Parteien bereiten sich schon auf die Präsidentschaftswahl vor, obwohl diese erst 2022 stattfindet. Bei dieser Regionalwahl stehen darum vor allem Themen im Vordergrund, die eher auf nationaler Ebene relevant sind, und für die die Regionen gar nicht zuständig sind.

Tagelang wird nur über Sicherheit, Kriminalität und Polizei geredet. Das sind aber Themen, die junge Erwachsene kaum ansprechen. Sie interessieren sich eher für globale Anliegen wie den Kampf gegen den Klimawandel und gegen Rassismus, oder für lokale Themen wie Hochschulpolitik und Integration in der Arbeitswelt. Deswegen können sie mit den Regionalwahlen und dem aktuellen Wahlkampf kaum etwas anfangen.

Wahlforscherin Anne Muxel (Foto: Privat)

Oft wird gesagt, dass sich die Jugend nicht für Politik interessiert. Stimmt das also gar nicht? Und warum gehen so viele junge Erwachsenen dann nicht wählen?

Diese Generation ist sogar sehr politisch und auch sehr anspruchsvoll. Aber die meisten bevorzugen andere Formen des politischen Engagements: Demonstrationen, Petitionen, Kunst, Videos, Boykott... Zu wählen ist für sie keine Pflicht, sondern nur eine von mehreren Möglichkeiten, sich politisch auszudrücken. Und junge Erwachsene suchen sich zu jedem Thema und Zeitpunkt das Mittel, das ihnen am effektivsten erscheint. Hinter der Abwesenheit an den Urnen verbirgt sich in Wahrheit eine kreative, anspruchsvolle Haltung gegenüber Politik und Demokratie.

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Gleichzeitig haben bei den bisher letzten Wahlen 20 bis 30 Prozent der jungen Wähler den Rassemblement National gewählt, die rechtsextreme Partei von Marine Le Pen. Ist das nicht ein Widerspruch?

Nicht wirklich. Diejenigen, die regelmäßig an Wahlen teilnehmen, verhalten sich in aller Regel so wie der Rest der Bevölkerung. Und dieser Rechtsruck ist in Frankreich in allen Generationen zu spüren. Junge Erwachsene zwischen 25 und 34 sind mit einer unübersichtlichen Arbeitswelt konfrontiert, mit schlecht bezahlten Jobs und unsicheren Beschäftigungsbedingungen. Sie halten Le Pen für eine legitime Protestkandidatin gegen den neoliberalen Macron.

Bei den 18- bis 25-Jährigen ist das andersherum, sie würden eher Macron wählen. Man darf aber nicht vergessen: Fast doppelt so viele Jungwähler geben ihre Stimme für linke Parteien ab, als für den Rassemblement National. Nur sind diese in Grüne, France Insoumise, Parti Socialiste und kleinere kommunistische Parteien zersplittert.

Ist Nichtwählen heute noch eine Form des politischen Protests?

Tatsächlich gibt es kein unpolitisches Nicht-Wählen. Entweder handelt es sich um eine klare Boykottentscheidung, oder es zeigt ein starkes Desinteresse an der Parteipolitik. Allgemein lehnen in Frankreich die jungen Wähler die repräsentative Demokratie, wie wir sie kennen, stark ab. Wahlen, Parteien und Machtpolitik sind bei den 18- bis 25-Jährigen nicht sehr beliebt. Das politische System erscheint vielen als korrupt und undemokratisch.

Ein Großteil der jungen Erwachsenen vertraut der Regierung und der politischen Klasse nicht und wünscht sich einen Systemwechsel. Das ist anders als in Deutschland, wo dieselbe Generation viel mehr Vertrauen in die aktuelle Demokratieform hat. Die Wahlbeteiligung bei den Jungwählern ist in Deutschland regelmäßig etwa zehn Prozentpunkte höher als in Frankreich.

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