Ein Kulturwandel passiert nicht über Nacht, schon gar nicht in der Politik. Frankreich erlebt gerade, wie schwierig es ist, eine Regierung zu finden, wenn die Verhältnisse im Parlament unklar sind – ja, wenn die Assemblée nationale so heillos zersplittert ist in drei ungefähr gleich große Blöcke wie die jetzige. Eine solche Lage, Produkt der Parlamentswahlen von vor bald zwei Monaten, gab es in der gesamten Geschichte der Fünften Republik noch nie, also seit 1958.
Nun hat der französische Staatspräsident, der laut Verfassung den Premierminister beruft, eine Regierung jenes Lagers verhindert, das bei der Wahl am meisten Sitze gewonnen hatte. Ein Kabinett des linken Nouveau Front populaire, so schreibt Emmanuel Macron in einem Communiqué, würde sofort von einer Mehrheit des Parlaments mit einem Misstrauensantrag gestürzt; das habe die erste Runde von Konsultationen aller Partei- und Fraktionschefs gezeigt.
„Mehr als 350 Abgeordnete“ wären gegen die gemeinsame Kandidatin des Nouveau Front populaire, Lucie Castets, für das Amt einer Regierungschefin. Und da er als Präsident für die „institutionelle Stabilität“ im Land garantieren müsse, schließe er eine allein linke Regierung aus.
Macron wünscht sich eine breite Koalition
Frankreich steht noch so weit von einer neuen Regierung entfernt wie am Abend des 7. Juli, nach dem zweiten Durchgang der Wahlen. „Wir lachen jetzt etwas weniger über die Belgier“, sagte eine Moderatorin im französischen Morgenradio. Früher, das muss man dazu wissen, amüsierten sich die Franzosen über lange Koalitionsverhandlungen, wie sie in den Nachbarländern üblich sind, auch in Deutschland.
Macrons Entscheid wühlt den Pariser Politbetrieb auf, das war zu erwarten. Überraschend kommt er allerdings nicht: Macron machte schon im Juli, kurz nach der Nominierung Castets, klar, dass er von dieser Personalie nicht viel hält und er sich eine große Koalition wünscht – eine solide Basis. Wahrscheinlich hoffte er, dass die chronisch zerstrittene Linke, die sich nur mit Mühe verbündet hatte für die Wahlen, sich schon wieder spalten würde, wenn er nur genügend lang auf Zeit spielen würde.
Das aber passierte nicht: Die Linke hielt an der 37-jährigen Finanzdirektorin der Pariser Stadtverwaltung fest. Die linksradikale Partei La France insoumise bot gar an, dass sie selbst keine Minister in Castets Kabinett stellen würde. Doch auch das reichte Macron und den anderen Parteien nicht aus: Der Nouveau Front populaire darf es also nicht einmal versuchen, eine Mehrheit zu bilden.
Die Kandidatin der Linken ist „sehr zornig, sehr beunruhigt“
Die Empörung ist entsprechend groß. Die Kommunisten, kleinster Partner im Bündnis, riefen auf, auf die Straße zu gehen, um gegen diese „sehr gravierende Krise der Demokratie“ zu demonstrieren. Andere Parteien und Gewerkschaften folgten dem Appell, geplant ist eine Kundgebung für den 7. September.
Die Chefin der Grünen, Marine Tondelier, spricht von einem „Abdriften in die Unfreiheit“. Castets selbst sagte, sie sei „sehr zornig, sehr beunruhigt“ über den Beschluss des Präsidenten. Man sei deshalb auch nicht mehr bereit, an weiteren Gesprächen im Élysée teilzunehmen. Macron hat für den Dienstag zu einer weiteren Runde von Treffen in sein Palais eingeladen.
Die Lage ist objektiv schwierig, vielleicht sogar aussichtslos. Das Lager des Präsidenten, seine Renaissance sowie die zwei Partnerparteien MoDem und Horizons, sind die großen Verlierer der Wahlen: Es wäre bizarr, wenn sie nun der Hauptpfeiler einer neuen Regierung wären. Das weiß Macron, er räumte auch ein, dass sich die Wähler einen politischen Wandel wünschten – er tut aber gleichzeitig so, als hätte das mit ihm nichts zu tun.
Wie soll unter diesen Umständen eine große Koalition möglich sein? Die Linke bleibt vorerst geschlossen in ihrer Empörung über den Präsidenten: Auch die Sozialisten, deren Unterstützung sich Macron wünscht, machen bislang keine Anstalten, den Lockrufen zu folgen. Die bürgerlichen Républicains wiederum zieren sich ebenfalls, mit den Macronisten zusammenzuarbeiten: Zusammen würden sie es auf etwa 220 Sitze bringen in der Nationalversammlung und wären damit fast gleich weit entfernt von einer absoluten Mehrheit wie die vereinte Linke.
Und so könnte diese Regierungssuche noch eine ganze Weile dauern, über die laufende Woche hinaus, vielleicht auch noch länger.
Anm.: In einer früheren Version war von Stimmen anstatt Sitzen die Rede, wir haben das korrigiert.