Frankreich erlebt einen dramatischen Moment in seiner Geschichte, einen Kippmoment. Nicht nur politisch, das ganze Staatssystem ist schwer unter Druck. Nie in den vergangenen 66 Jahren, seit Beginn der Fünften Republik, war das Pariser Machtgefüge so labil wie jetzt. Die legendäre Stabilität Frankreichs – wie weggepustet. Ausgerechnet in dieser geopolitisch komplexen Zeit. Ausgerechnet mit arg beschädigten Staatsfinanzen.
Der Sturz von Premier Michel Barnier und seiner Regierung nach drei Monaten im Amt ist nur ein Symptom dieser Krise, allerdings ein eindrucksvolles. Es stellt sich die Frage, ob die Strukturen der Fünften Republik, die ganz auf eine starke Exekutive ausgerichtet sind und dabei vor allem auf einen sehr starken Präsidenten mit einer Parlamentsmehrheit, überhaupt noch passen. Oder ob Frankreich schon in einer Crise de régime steckt, einer Systemkrise.
Was ist so historisch an einer gestürzten Regierung?
In Frankreich hat es das seit 1962 nicht gegeben. Damals kippte das Parlament Georges Pompidou, den Premier von Präsident Charles de Gaulle. De Gaulle löste das Parlament auf, setzte Neuwahlen an und gewann. Pompidou war wieder an seinem Platz und sollte später selbst Präsident werden. Macron hat diese Option nicht mehr, er hat sie am 9. Juni verspielt, als er zur Verwunderung aller nach verlorener Europawahl die Nationalversammlung auflöste und Neuwahlen ansetzte – ein kolossaler strategischer Fehler, an den man sich in Frankreich noch sehr lang erinnern wird.
Warum war die vorgezogene Neuwahl ein Fehler?
Es war absehbar, dass die Wahlen den Palais Bourbon, den Sitz der Nationalversammlung, erschüttern würden. Seither ist das Parlament blockiert: drei große Blöcke, alle drei weit entfernt von einer absoluten Mehrheit. Macrons eigenes Lager ist stark geschrumpft. Das kann nicht sein Ziel gewesen sein. Der Coup ging schief. Macron hätte einen Premier aus dem linken Nouveau Front Populaire berufen können, der von den drei Blöcken noch am meisten Sitze erreicht hatte. Doch er fragte die Linke nicht einmal und entschied sich stattdessen für Michel Barnier, einen Vertreter der kleinen konservativen Partei Les Républicains. Er verärgerte damit auch seine eigenen Leute. Zur Mehrheit fehlten dieser Allianz mehr als 70 Stimmen. Die Oppositionsparteien legten nun zusammen: die radikale Linke, die Sozialdemokraten, die Grünen, die Kommunisten und die extreme Rechte von Marine Le Pen. Und stürzten Barnier, alle vereint.
Was passiert jetzt? Die Kräfteverhältnisse im Parlament bleiben ja dieselben.
Etwas bewegt sich. Die Sozialisten haben signalisiert, dass sie unter Umständen einen Nichtangriffspakt mit den Zentristen und den Republikanern eingehen könnten, Regierungsgeschäft um Regierungsgeschäft, so sie den Premier stellen können. Man wolle Kompromisse suchen. Allein schon der Begriff Kompromiss: Die politische Kultur Frankreichs kannte ihn bisher nicht. Summiert man die 66 Abgeordneten des Parti Socialiste mit denen der Mitte und der moderaten Rechten, wäre eine Mehrheit nahe. Eine Art lose große Koalition. Gut möglich, dass dann auch andere kleine Parteien mitmachen würden, die Kommunisten und die Grünen zum Beispiel. Allerdings fragt sich, ob der Nouveau Front Populaire so nicht implodieren würde, der sich zur Wahl im Juni gebildet hatte und zu der außer dem Parti Socialiste die Kommunisten, die Grünen und France insoumise zählen. Die Sozialdemokraten würden damit de facto mit der radikal linken France insoumise brechen.
Was ist mit Marine Le Pen – hat sie geschickt taktiert?
Das ist eine der ganz großen Fragen. Barnier war eigentlich ein idealer Premier für die stark gewachsene extreme Rechte: Er war der erste Premier in der Geschichte, der mit den Lepenisten redete, mit ihnen verhandelte, sich auch mal entschuldigte bei ihnen. Le Pen holte eine Menge heraus – und hätte noch viel mehr herausholen können: ein schärferes Immigrationsgesetz etwa, die Einführung eines Verhältnismodus für Parlamentswahlen. Sie hätte nur geduldig bleiben müssen. Doch offensichtlich war sie zu der Überzeugung gelangt, dass ihr politisch wenig Zeit bleibt: Für Ende März ist die Urteilsverkündung im Prozess wegen veruntreuter Millionen aus der EU angesetzt. Le Pen droht neben einer Haft- und Geldstrafe auch der Entzug des passiven Wahlrechts für fünf Jahre. Wird sie verurteilt, wovon sie selbst ganz offenbar ausgeht, dürfte sie bei der nächsten Präsidentschaftswahl nicht antreten. Und so kann ihr das Chaos gar nicht groß genug sein. Sie sehne sich nach einer bordélisation, heißt es in Frankreich. Das kommt vom Wort bordel, Bordell. Aber ob das ihrer Wählerschaft wirklich gefällt, ist fraglich.
Le Pen und die radikale Linke spekulieren mit einem Rücktritt von Macron, wie wahrscheinlich ist der?
Sehr unwahrscheinlich. Er muss nicht zurücktreten, er will nicht. Seine Amtszeit läuft noch zweieinhalb Jahre. Macron sagt, er werde „bis zur letzten Sekunde“ regieren. Aber vielleicht bleibt ihm irgendwann nichts anderes übrig als der Rücktritt? Da er gemäß Verfassung erst im kommenden Sommer (oder eher im September) das Parlament erneut auflösen darf, kann es sein, dass die Nationalversammlung Premier um Premier verschleißt und das Land lähmt, die Märkte entfesselt. Dann wäre sein Rücktritt der einzige Weg, um die Blockade zu lösen.
Der Fokus verschiebt sich jedenfalls wieder ganz auf Macron. Was sind seine Optionen?
Ja, er ist zurück. Während der vergangenen drei Monate war Macron innenpolitisch fast gar nicht mehr in Erscheinung getreten. Die neue Zentralität des Parlaments, in dieser Form ein Novum in der Fünften Republik, blendete den „republikanischen Monarchen“, wie die Franzosen ihre mächtigen Präsidenten nennen, fast vollkommen aus. Die Berufung des Regierungschefs liegt aber ganz beim Präsidenten: Er kann auswählen, wen er will. Rein theoretisch könnte Macron noch einmal Barnier nominieren, doch das wäre nur Trotz. Oder er beruft eine parteilose Persönlichkeit für ein Expertenkabinett, das wäre eine Premiere für Frankreich. Viel wahrscheinlicher ist es deshalb, dass Macron wieder einen politischen Premier beruft. Die Öffnung der Sozialisten verbessert seine Lage ein bisschen, sie mehrt zumindest die Optionen.
Nach Regierungssturz:Macron sucht im Eiltempo einen neuen Premier
Nicht einmal drei Monate hat Frankreichs Mitte-rechts-Regierung gehalten. Staatschef Macron begibt sich erneut auf die Suche nach einem Premier. Der Wechsel solle bereits in wenigen Tagen stattfinden.
Wer käme als neuer Premier infrage – diesmal ein Linker?
Die Logik würde es gebieten, aber Logik ist nicht Macron. Der Präsident liebt es, die Galerie zu verblüffen. Darum: Eher nicht. Oder höchstens ein moderater Linker, der sich mit den Republikanern verträgt. In diesem Zusammenhang fällt jetzt wieder der Name von Bernard Cazeneuve, der unter Präsident François Hollande schon einmal Regierungschef war. Allerdings war Cazeneuve seit seinem Austritt aus dem Parti socialiste immer wieder ausgesprochen kritisch mit seiner politischen Familie. Als Brückenbauer in der Mitte könnte er funktionieren, aber manche Sozialisten möchten ihn nicht.
Wird es also doch wieder ein Rechter oder ein Zentrist?
Macron wäre eigentlich froh, wenn die nun gestürzte Koalition, der sogenannte socle commun, der gemeinsame Sockel, neu aufgelegt würde – allenfalls mit etwas Hilfe von außen. Der Präsident hat seit seiner ersten Wahl 2017 ein Bündnis mit den Republikanern angestrebt, er würde sie gerne bewahren. Ein möglicher Kandidat für die Nachfolge Barniers ist Sébastien Lecornu, selber ein früherer Républicain und seit seinem Übertritt in Macrons Lager ein felsenfester Macronist. Der junge Verteidigungsminister soll auch die Gunst von Madame Macron haben. Wie immer wird auch wieder François Bayrou gehandelt, der Chef der zentristischen Partei MoDem, inzwischen 73 Jahre alt. Er wäre auch der Linken genehm. Eine radikale Wahl wäre Bruno Retailleau, der sehr rechte Innenminister der abtretenden Regierung. Retailleau stand in diesen drei Monaten oft im Scheinwerferlicht, er suchte es mit Vehemenz – und er suchte den Goodwill der Lepenisten, die in ihm beinahe einen der Ihren sehen. Viel Aufmerksamkeit bekommt nun auch François Baroin, 59, mehrmals Minister, unter anderem Wirtschafts- und Finanzminister unter Nicolas Sarkozy. Der Bürgermeister von Troyes ist schon seit einer Weile aus der nationalen Politik ausgeschieden und arbeitet für eine Geschäftsbank.
Wie dramatisch ist es, dass Frankreich noch immer kein Budget für 2025 hat?
Nicht ganz so dramatisch, wie Barnier gewarnt hatte, um seinen Sturz zu verhindern. Ein staatlicher Shutdown, wie ihn die Amerikaner in solchen Situationen kennen, droht jedenfalls nicht: Die französischen Beamten werden ihre Löhne ausbezahlt bekommen, die Rentner ihre Renten. Dafür gibt es Sondergesetze. Doch Barniers Sparetat für das kommende Jahr endet nun im Abfalleimer. Darüber sind manche froh, andere besorgt – je nachdem, wie die geplanten Massnahmen sie getroffen hätten. Die Sanierung der Staatsfinanzen ist fürs Erste aufgeschoben.