Frankreich: Proteste gegen Rentenreform:"Fessellosem Feuer gleich"

Konservative Revolutionäre: Nicolas Sarkozys Rentenreform fällt moderat aus, dennoch gerät Frankreich in Wallung. Das Land der Vernunft läuft Gefahr, ein Sonderling zu werden - auch wegen Sarkozy.

Stefan Ulrich, Paris

Europa staunt über Frankreich. Gewiss, das Revolutionsland ist dafür bekannt, gern in Wallung zu geraten. Doch diesmal scheinen sie es zu übertreiben, die Nachbarn. Millionen Franzosen begehren gegen eine Rentenreform auf, die andere Europäer in härterer Form längst festgeschrieben und akzeptiert haben, von Horst Seehofer einmal abgesehen. In Frankreich dagegen brennen Autos und Schulen, Geschäfte werden geplündert, Raffinerien blockiert.

Demonstration gegen Rentenreform

Erinnerungen an die großen Stunden des Aufstands: Jugendliche protestieren in Paris.

(Foto: dpa)

Während den Autofahrern der Sprit ausgeht, übernehmen wütende Gymnasiasten und Gruppen von Berufsrowdys die Hoheit auf den Straßen. Die Gewerkschaftsführer verlieren die Kontrolle. Der Protest macht sich selbständig. Nicolas Sarkozy erlebt, was schon Menelaos, der König von Sparta, wusste: "Wenn das Volk aufbrauset, übermannt vom Zorn, ist's schwer zu dämpfen, fessellosem Feuer gleich."

Dabei ist dem französischen Präsidenten bei der Rentenreform wenig vorzuwerfen. Die Anhebung des Rentenalters auf - je nach den Umständen - 62 bis 67 Jahre ist moderat. Zudem hat Sarkozy inzwischen so viele Ausnahmen zugestanden, dass viele Franzosen so früh wie bisher in Ruhestand gehen können. Auch hat der Präsident während der Streiks und Demonstrationen der vergangenen Wochen Ruhe bewahrt und Provokationen unterlassen. Erst jetzt, da seinem Land die Paralyse droht, will er schärfer gegen Blockierer und Straßenkämpfer vorgehen. Zwar wird kritisiert, er treibe die Reform in hohem Tempo durchs Parlament, aber das sollte niemanden überraschen. Schließlich haben ihn die Franzosen als Macher gewählt.

Nun aber wird dem Reformator übelgenommen, dass er mit dem Reformieren beginnt. Die Bürger revoltieren, damit sich nichts ändert. Sie geben sich revolutionär und konservativ zugleich. Es ist diese doppelte Seele, die Frankreich bisweilen rätselhaft macht. Das Land der Vernunft, das kulturelle Vorbild, wirkt wunderlich in diesen Tagen. Es läuft Gefahr, zum Sonderling zu werden.

Was treibt sie um, die Franzosen, die sich in Umfragen zu 70 Prozent hinter die Protestfront stellen? Die erste Antwort lautet: Sarkozy hat schon vor der Rentenreform sein politisches Kapital verspielt. Er ging viele Bauvorhaben an und beendete wenige. Manchmal ließ er Baugruben mit Getöse öffnen, um danach rasch die Arbeiten einzustellen. Ein Beispiel ist die gescheiterte Ökosteuer. Sarkozy, der so vieles ändern und verbessern wollte, verstand es nicht, den Franzosen einen Gesamtplan zu vermitteln. Er wirkte wie ein Bastler an der Republik, nicht wie ihr Architekt.

Einige Hauptprobleme der Gesellschaft blieben so unerledigt. In den Banlieues, die Sarkozy reinigen wollte, herrschen Armut und Bildungsnot wie zuvor. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt im Landesdurchschnitt bei mehr als 23 Prozent. Auch die Älteren haben es schwer, sich im Leben einzurichten. Viele Franzosen zwischen 30 und 40 Jahren leben bei ihren Eltern, weil sie sich mit ihren befristeten, schlecht bezahlten Jobs keine Wohnung leisten können.

Was wird als Nächstes kommen?

Die Regierung Sarkozy will sich, sobald die Rentenkrise überwunden ist, darauf konzentrieren. Sie hätte es früher tun müssen. Der Zorn vieler Schüler ist also nachvollziehbar. Die Gymnasiasten blicken weniger auf die Lage der Rentenkassen als auf ihre Aussichten für einen Job. Diese, so fürchten sie, schwinden weiter, wenn die Alten einige Jahre länger arbeiten müssen.

Natürlich treibt manchen Schüler, der gegen "Sarko" anbrüllt, auch die Freude am Massenereignis auf die Straße. Auch die Erinnerung an große Stunden des Aufstands - 1789, 1968 - mobilisiert die Menschen. Viele Franzosen möchten sich als würdige Erben der Revolution erweisen. Im Lauf der Zeit haben sie Rituale der Revolte entwickelt. Diese erfordern es, schon aus Prinzip bei jeder Reform zu roten Fahnen zu greifen. Oft verebben solche Proteste schnell. Doch manchmal schaukeln sie sich auf und bedrohen den Élysée-Palast. Das musste selbst Charles de Gaulle schon erleben.

Nun droht Sarkozy in eine große Welle zu geraten. Die Rente mit 60 ist ein Symbol der Republik. Unter dem Sozialisten Mitterrand eingeführt, ist sie für die Bürger ein Eiffelturm in der sozialpolitischen Landschaft, der Frankreichs Anspruch als Avantgarde einer menschenwürdigen Gesellschaft symbolisiert. Zugleich betrachten viele Bürger einen frühen Ruhestand als individuelles Recht, dem Eigentum vergleichbar. Sie haben das Gefühl, Sarkozy wolle sich an ihrem Hab und Gut vergreifen.

Vom Präsidenten aber wird in Frankreich erwartet, die Bürger zu beschützen. Er hat sie vor den Zumutungen einer kalten Welt zu bewahren, die jenseits der französischen Grenzen bleiben soll. Ist man 1789 auf die Barrikaden gestiegen, um heute kampflos die Rente mit 60 preiszugeben? Was wird dann als Nächstes kommen? Die Angst vor Veränderungen zum Schlechteren treibt auch andere europäische Nationen um. Die Franzosen aber haben ihrem Staat Revolte um Revolte immer mehr Schutz und viele Vorrechte abgetrotzt. Sie haben mehr als andere zu verlieren. Das macht Frankreich zu einem sehr konservativen Land. Wer das, wie Sarkozy, antastet, riskiert die Revolution.

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