Der rechtsextreme Rassemblement National (RN) von Marine Le Pen und seine Verbündeten sind in der ersten Runde der Wahl zur Nationalversammlung mit etwa 33 Prozent der Wählerstimmen zur stärksten politischen Kraft aufgestiegen. Der RN hat bereits 37 der 577 Mandate im Parlament gewonnen, in weiteren 222 Wahlkreisen haben seine Kandidaten im ersten Wahlgang Platz eins belegt. Damit ist eine absolute Mehrheit zumindest im Bereich des Möglichen. Bei der Stichwahl am kommenden Sonntag zeichnet sich eine informelle Zusammenarbeit zwischen dem vier Parteien umfassenden Linksbündnis Nouveau Front populaire ab, das knapp 28 Prozent erzielte, und dem Ensemble pour la République von Präsident Emmanuel Macron, das mit etwa 20 Prozent auf den dritten Platz verwiesen worden ist. Beide haben angekündigt, drittplatzierte Kandidatinnen und Kandidaten zurückzuziehen, um gemeinsam Mehrheiten gegen den RN zu ermöglichen. Regierungssprecher Steffen Hebestreit lehnte es ab, das Ergebnis zu kommentieren, zumal es einen zweiten Wahlgang gebe, der entscheidend sei. Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) sagte, Deutschland und Frankreich trügen „eine besondere Verantwortung für unser gemeinsames Europa“. Es könne niemanden kaltlassen, wenn bei den Europawahlen in Deutschland oder nun in Frankreich Parteien erstarken, die „in Europa das Problem und nicht die Lösung“ sehen. Die Süddeutsche Zeitung hat in Berlin Reaktionen auf die Wahlergebnisse gesammelt.
Michael Roth, SPD, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag: „Macron hat vor wenigen Wochen davor gewarnt, dass Europa sterben kann. Das klang sehr übertrieben. Dieses Szenario ist aber bezogen auf die EU mit dem Wahlsieg des rechtsnationalen Rassemblement National nähergerückt. Deswegen ist es umso unverständlicher, wieso Macron das Schicksal Frankreichs und Europas ohne Not aufs Spiel gesetzt hat. Vor sieben Jahren war er einmal angetreten, die politische Mitte in Frankreich zu stärken, nun könnte er selbst zum Totengräber der politischen Mitte werden. Macrons Kalkül ist nicht aufgegangen, die stabile Regierungsmehrheit ist passé. Noch schlimmer: Begünstigt durch das französische Mehrheitswahlrecht wurde sein Parteienbündnis Ensemble in der ersten Runde der Parlamentswahl förmlich zerrieben zwischen den radikalen politischen Rändern. Nun geht es nur noch um Schadensbegrenzung, nämlich die absolute Mehrheit für den Rassemblement National durch ein breites demokratisches Bündnis noch abzuwenden. Aber ob das mit einem linkspopulistischen Politiker wie Mélenchon möglich sein wird, bezweifele ich. Die Stichwahl ist nicht nur eine Richtungsentscheidung für Frankreich, sondern für ganz Europa. Ein Premierminister vom rechtsnationalen Rassemblement National würde den innen- und außenpolitischen Handlungsspielraum von Präsident Macron in den verbleibenden drei Jahren seiner zweiten Amtszeit empfindlich einschränken. Frankreich droht damit als verlässlicher Partner in Europa auszufallen.“
Johann Wadephul, für Außenpolitik zuständiger stellvertretender Fraktionsvorsitzender der CDU/CSU: „Präsident Macron hat hoch gepokert und nach Lage der Dinge verloren. In vielen Stichwahlen steht die extreme Rechte der linken Linken gegenüber. So wird Frankreich keine stabile Regierung erhalten. Frankreich droht auf Jahre die Handlungsunfähigkeit und Zerrissenheit. Damit zieht Macron ganz Europa in eine Krise. Dass der sich selbst titulierende Europäer Macron so mit dem Schicksal Europas pokert, ist verheerend. Es wird wichtig, dass sich die politische Mitte in Frankreich endlich rekonstituiert und neue politische Kraft entwickelt. Dieser Prozess muss jetzt beginnen. Für Deutschland bedeutet dies, dass es jetzt noch mehr Führungsverantwortung in Europa zeigen muss. Doch dazu scheint Scholz wieder und wieder nicht in der Lage zu sein. Das Haushaltsdrama ist ein weiteres Indiz für die Schwäche von Scholz.“
Anton Hofreiter, Grüne, Vorsitzender des Europa-Ausschusses im Bundestag: „Ich hatte befürchtet, dass das Wahlergebnis noch dramatischer aussehen würde. Die Rechtspopulisten von Le Pen sind weit entfernt von der befürchteten absoluten Mehrheit. Es kommt jetzt darauf an, dass sich die demokratischen Parteien für die Stichwahl zusammentun. Ich habe die Hoffnung, dass eine Regierungsbeteiligung des RN damit verhindert werden kann. Auch wenn sich Le Pen gemäßigt gibt, wird sie – einmal an der Macht – auch rechtsextreme Politik machen. Rechtsextreme Parteien entzaubern sich nicht. Das wäre eine große Gefahr für Europa. Angesichts der großen Herausforderungen muss Europa zusammenstehen und nicht in nationalstaatliche Konflikte zurückfallen.“

Parlamentswahl in Frankreich:Wer hat wen gewählt?
Zum ersten Mal in der französischen Geschichte hat der Rassemblement National die erste Runde einer Parlamentswahl gewonnen. Wahlumfragen zeigen, welche Bevölkerungsgruppen die extrem rechte Partei besonders überzeugt hat – und welche nicht.
Nils Schmid, außenpolitischer Sprecher der SPD-Fraktion, Obmann im außenpolitischen Ausschuss des Bundestags: „Jetzt ist Schadensbegrenzung angesagt. Nachdem Macron ohne Not das Parlament aufgelöst hat, besteht die Gefahr einer absoluten Mehrheit für den RN. Damit wären grundlegende demokratische Werte bedroht, und in der EU würde die Zusammenarbeit mit Frankreich schwierig. Ich setze auf umfassende Wahlabsprachen, damit möglichst viele RN-Mandate verhindert werden. Gleichzeitig sollte uns die Erfahrung mit dem Macronismus als Mahnung dienen, in der Politik nicht auf Heilsbringer zu setzen, sosehr sie uns beeindrucken mögen.“
Michael Link, für Außenpolitik zuständiger stellvertretender Fraktionsvorsitzender der FDP: „Le Pen konnte mit ihrem pseudo-bürgerlichen Kurs in den letzten Jahren viele Wähler binden. Analysiert man ihre Ziele jedoch genauer, dann bleibt sie ein Wolf im Schafspelz. Macron hat hoch gepokert und gegenüber der Europawahl etwa sechs Prozentpunkte hinzugewonnen. Doch das reicht nicht. Er wird nun mit seinen Leuten im zweiten Wahlgang in vielen Wahlkreisen gar nicht mehr vertreten sein. Wenn sich jetzt in den Stichwahlen die Wähler häufig hinter dem Kandidaten des linken Front populaire versammeln, dann ist das nur scheinbar ein Hoffnungsschimmer, denn die Volksfront-Koalition ist durchsetzt von linken EU- und Nato-Gegnern und Linksnationalisten, mit denen genauso wenig vernünftig regiert werden kann wie mit Le Pens Rassemblement National.“
Norbert Röttgen, Außenpolitiker der CDU und Mitglied im Auswärtigen Ausschuss des Bundestags: „Frankreich steht jetzt vor der Alternative einer absoluten Mehrheit von RN oder Unregierbarkeit. Das Land ist gespalten zwischen Rechts- und Linksradikalen, die Mitte ist die Minderheit. Macron ist gescheitert und isoliert, er ist zur Belastung für seine geschrumpfte Partei geworden. Addiert man das Verhalten von Macron und Biden, dann ergibt sich eine selbstverschuldete Schwächung des Westens. Wenn Scholz jetzt nicht endlich Führung zeigt, dann trägt auch er zur Schwäche des Westens bei.“
Ulrich Lechte, außenpolitischer Sprecher der FDP und Obmann im Auswärtigen Ausschuss: Ob Emmanuel Macron die rechte Büchse der Pandora geöffnet hat, bleibt auch nach den mehr als ernüchternden Ergebnissen von gestern Abend offen. Er selber hat sich definitiv geschwächt, den Extremen an den Rändern rechts wie links Tür und Tor geöffnet und steht vor einer schwierigen Cohabitation. Speziell Rechtspopulisten können noch so oft den Pelz wechseln, sie bleiben hochgefährlich für die Demokratie und die Freiheit. Deren Feinde in Moskau und Peking reiben sich die Hände über die Naivität der europäischen Gesellschaften und bejubeln den Erfolg der Rechten und Linken. Ziel ist es, die EU zu entzweien, über Nationalismus Zwietracht in die Einheit zu säen. Hilfsmittel sind Finanzierung von radikalen Parteien, Flüchtlingsströme auszulösen und weitere Partner wie Viktor Orbán zu gewinnen. Der gestrige Abend war ein weiterer Meilenstein auf diesem Weg.