Frankreich:Präsident und Therapeut

Macron will das gespaltene Land in Gesprächsrunden heilen. Doch die Bürger haben so ihre Zweifel an dem Unterfangen, und selbst die Regierung dämpft die Erwartungen.

Von Nadia Pantel, Paris

Als Frankreichs Präsident Emmanuel Macron Mitte Januar den "Grand débat national" startete, weckte das vor allem Skepsis. Macron wollte tun, was er den Bürgern schon vor dem Beginn der Gelbwesten-Proteste immer wieder versprochen hatte: zuhören. Zweifler wandten ein, dass der Präsident doch alle von den Gilets jaunes angeprangerten Probleme längst kenne. Tatsächlich hatte Macron in seinem Buch "Révolution", mit dem er sich 2017 den Franzosen als Kandidat fürs höchste Amt im Staat vorstellte, bereits analysiert, was die Gelbwesten ein Jahr später auf die Straße brachten: "Das heutige Frankreich ist geteilt und zerrissen. Auf der einen Seite die Metropolen, auf der anderen Seite ein Frankreich, das wir oft die Peripherie nennen. Diesem peripheren Frankreich fehlt es oft an den grundlegendsten öffentlichen Einrichtungen, an Infrastruktur, an Kitas, an Kulturangeboten." Was sollte es also bringen, wenn Macron aufs Land fährt und sich in Diskussionsrunden anhört, was er ohnehin schon weiß?

Nach zwei Monaten Gesprächstherapie endete an diesem Freitag die erste Runde des "Grand débat". Inwieweit das Experiment ein Erfolg war, ist schwer zu messen. In einer Umfrage des Instituts Elabe klingen die Franzosen kaum enthusiastisch. 70 Prozent der Befragten glauben, dass die Debatte nicht helfen wird, die Krise zu überwinden. Eine vom Figaro in Auftrag gegebene Umfrage ergibt ein positiveres Bild: Grundsätzlich handele es sich beim Grand débat um eine gute Sache, sagen 70 Prozent der Befragten. Und 83 Prozent geben an, dass sie den Eindruck haben, die Franzosen hätten die Chance bekommen, sich frei auszudrücken. Doch auch in dieser Umfrage werden Zweifel daran laut, ob die Gespräche Lösungen bieten für die Anliegen der Gilets jaunes.

Frankreich: Emmanuel Macron in Greoux Les Bains in Südfrankreich. Der Präsident überzeugte so manchen Débat-Teilnehmer auch deshalb, weil er ihm nicht nach dem Mund redete – sondern Dissens offen ansprach.

Emmanuel Macron in Greoux Les Bains in Südfrankreich. Der Präsident überzeugte so manchen Débat-Teilnehmer auch deshalb, weil er ihm nicht nach dem Mund redete – sondern Dissens offen ansprach.

(Foto: Claude Paris/AP)

Vergangenen Samstag waren in ganz Frankreich nur noch 28 600 Demonstranten in gelben Westen auf die Straße gegangen. Unklar bleibt jedoch, welchen Anteil der Grand débat am Abebben der Proteste hat. Seit bald vier Monaten mobilisiert die Bewegung ihre Anhänger - ein Rekord in Frankreichs fünfter Republik. Inzwischen aber nimmt bei einer wachsenden Zahl der Gelbwesten die Ausdauer ab.

Schaut man nicht auf die Umfragen, sondern auf die Zahlen, ist der Eindruck weniger durchwachsen. Mehr als 10 000 Treffen fanden statt. Auf der Website des Grand débat haben mehr als 1,4 Millionen Bürger Fragen zu Ökologie, Steuern und Demokratie beantwortet. In Gemeindezentren kamen abends und am Wochenende Menschen zusammen, die das Gefühl hatten, ihre Meinung könnte zählen. Es liegt auch an dieser Ernsthaftigkeit, dass die skeptischen Stimmen in den vergangenen Wochen stiller wurden. Doch gerade wegen dieser Ernsthaftigkeit wurde das Ende des Manövers an diesem Freitag nicht nur mit Spannung, sondern auch mit Sorge erwartet. Zwar ist den meisten Franzosen klar, dass reden allein nicht alles ändert. Doch es wäre bitter genug, jene Minderheit zu enttäuschen, die sich von Macrons Idee eines offenen Austausches begeistern ließ.

In den kommenden Wochen beginnt die Inventur: Was genau wollen die Franzosen? Gibt es einen Forderungskatalog der Gelbwesten? Entsteht für die Regierung ein Handlungsdruck, der über Macrons eigene Analysen in seinem Buch "Révolution" hinausgeht? Mitte April soll Macron öffentlich Konsequenzen aus den Hunderttausenden Vorschlägen ziehen. In jedem seiner Auftritte hatte der Präsident von "konkreten Konsequenzen" gesprochen.

Anfang der Woche bemühte sich Premierminister Édouard Philippe, die Erwartungen zu dämpfen: "Wer sich vorstellt, dass am Ende des Grand débat eine Reihe von Ankündigungen, von Wahrheiten steht, der schätzt die grundsätzliche Beschaffenheit dieser Übung falsch ein." Philippe hatte von Anfang an verhalten auf Macrons Initiative reagiert und eher Gefahren als Chancen gesehen. Nun erklärte er vor der Assemblée Nationale: "Es ist recht einfach, ein Gefühl von Konsens herzustellen. Dafür muss man sich die Dinge nur aus ausreichend großer Distanz anschauen." Doch ein Konsens sei nicht dasselbe wie ein demokratischer Kompromiss.

10 000 Diskussionen

mit Kommunalvertretern und Bürgern gab es im Rahmen der "Grand débat" zwischen dem 15. Januar und dem 15. März. Daran beteiligte sich etwa eine halbe Million Menschen in ganz Frankreich, es wurden etwa 1,4 Millionen Beiträge auf einer eigens eingerichteten Internetplattform gezählt. Die "Grand débat" war Präsident Emmanuel Macrons Antwort auf die Sozialbewegung der "Gelbwesten", die seit fast vier Monaten gegen seine Politik auf die Straße geht.

AFP

Philippes Worte stehen dabei nicht im Widerspruch zu Macrons Debattenbeiträgen. Immer wieder hatte der vor Bürgermeistern, Lokalpolitikern und Akteuren der Zivilgesellschaft offen ausgesprochen, dass er die Lage zuweilen anders einschätzte als die von ihm Zusammengerufenen. So saß Macron vor drei Wochen im Wintergarten der Präfektur von Bordeaux - wie immer wurde die Debatte live im Fernsehen übertragen -, die Anwesenden tragen ihre Sorgen und Ideen vor. So erzählte die Bürgermeisterin der kleinen Gemeinde Marsas, wie der Schnellzug TGV alle zehn Minuten durch ihre Ortschaft rauscht und dabei die Häuser zum Wackeln bringt. Eineinhalb Stunden lang sitzen die Bewohner von Marsas im Bummelzug, um ins 40 Kilometer entfernte Bordeaux zu gelangen. Der vorbeirasende TGV braucht für die Strecke Bordeaux-Paris nur eine halbe Stunde länger. Die Geschichte des Dorfes Marsas ist fast schon eine Karikatur des viel beschriebenen Auseinanderfallens des Landes in Städte und vergessene Dörfer. Macron hört schweigend zu, am Ende reagiert er auf jede einzelne Frage. Ja, man müsse in die Infrastruktur vor Ort investieren. Doch: "Frankreich ist und bleibt ein zentralistischer Staat, so sind wir entstanden, das werden wir nicht ändern."

Mit solchen Ansagen hat Macron vor allem die überzeugt, die ihn 2017 in die zweite Runde der Präsidentschaftswahl gewählt hatten - und zwischenzeitlich an ihrer Entscheidung gezweifelt hatten. "Macron ist es gelungen, seine Wählerschaft wieder zu mobilisieren", stellt Jérôme Fourquet fest, Leiter des Meinungsforschungsinstituts Ifop. In seinen Analysen zeigt sich, dass die Menschen dort besonders aktiv am Grand débat teilgenommen haben, wo die Gilets jaunes wenig Anhänger fanden. Macrons Diskussionsangebot wurde vor allem in Paris gut angenommen. Die Menschen, die dort seit November auf die Straße gehen, kommen meist nicht aus der Hauptstadt. Sie reisen an, um daran zu erinnern, dass es sie gibt.

Läuft man den Cours Pasteur in Bordeaux entlang, ist fast jede zweite Scheibe zersplittert

Diese Erinnerung ist immer wieder heftig ausgefallen. Nicht nur in Paris. Nach seiner Diskussion in der Präfektur von Bordeaux wird Macron auf der Straße von einer kleinen Gruppe Demonstranten erwartet. Es sind keine Gilets jaunes, es sind Geschäftsleute aus der Innenstadt von Bordeaux, deren Türen oder Scheiben zerstört wurden und die seit Anfang Dezember jeden Samstag ihre Läden für ein paar Stunden schließen müssen, weil sie befürchten, dass sie sonst erneut von Demonstranten verwüstet werden. Einer von ihnen musste Anfang des Jahres sein Reisebüro in der Straße Cours Pasteur schließen. Zweimal waren ihm die Scheiben eingeschlagen worden, am 12. Januar räumten Menschen in Warnwesten schließlich sein gesamtes Mobiliar auf die Straße, um es zu verbrennen. Läuft man den Cours Pasteur entlang, ist jede zweite Fensterscheibe zersplittert. Es hat Banken und Makler getroffen, aber auch Bars und Friseurläden.

Dieser Gewalt steht die Gewalt der Polizei gegenüber. Der Europarat, die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, eine Gruppe französischer Augenärzte: Sie alle haben die französische Regierung dazu aufgefordert, den Einsatz von Gummigeschossen zu überdenken. Mindestens 193 Menschen wurden auf den Demos der Gelbwesten von Waffen der Polizei getroffen, meist am Kopf. Viele haben Augenverletzungen erlitten. Es gehört zu den Besonderheiten des Grand débat, dass er in einer Atmosphäre stattfand, in der sich das Land an einen besonders brutalen Umgang miteinander zu gewöhnen schien.

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