Frankreich nach den Morden von Toulouse:Wenn ein Verbrechen ans Innerste rührt

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Die Franzosen sind so sehr von ihren gemeinsamen Werten und der Einzigartigkeit ihrer Republik überzeugt, dass der Terror von Toulouse sie bis ins Mark trifft. Ist die Gesellschaft am Ende mitschuld daran, dass ein junger Mann zum grausamen Mörder wurde? Es ist Zeit, dass die Nation versucht ihrem hohen Selbstbild wirklich gerecht zu werden.

Stefan Ulrich

In vergangenen Zeiten hatten es die Menschen leichter, katastrophale Ereignisse einzuordnen. Wütete die Pest oder vertrockneten die Felder, so zürnten die Götter. Verfiel einer dem Wahnsinn, waren Dämonen am Werk. Und heute? Da hat die Vernunft die Götter in den Himmel verbannt. Der Mensch erklärt sich Katastrophen auf irdische Weise. Werden Verbrechen begangen, die unfassbar sind, will er sie dennoch verstehen. Er fragt nach Schuld, Sinn, Lehren, in der Illusion, das Geschehen wenigstens nachträglich kontrollieren zu können.

Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy (r.) erweist den in Toulouse und Montauban erschossenen Soldaten seine Ehre. (Foto: dpa)

Dies passiert jetzt in Frankreich. Dort hat ein Mann die Nation heimgesucht, der aus drei Wesen zu bestehen schien: einem lebenslustigen Burschen, einem pseudoreligiösen Fanatiker und einem kalten Vollstrecker. Wie ein Anti-Held aus einem Killer-Video ist dieser Mann über das Land hereingebrochen. Er hat sieben Menschen ermordet, darunter drei Kinder, und damit weit mehr ausgelöst als eine Unterbrechung des Wahlkampfs. Die Republik, die ohnehin oft an sich zweifelt, fühlt sich im Innersten getroffen.

Natürlich wollen die Bürger wissen, ob diese Verbrechen hätten verhindert werden können. Polizei und Geheimdienste werden beschuldigt, Mohamed Merah nicht sorgsam überwacht zu haben. Experten behaupten, die Einsatzleitung habe beim Sturm auf die Wohnung des Mörders Fehler begangen. Die kommenden Wochen werden zeigen, ob dies stimmt.

Schon jetzt aber lässt sich sagen, dass die Sicherheitskräfte auch ihre Verdienste haben. Seit 1995 blieb Frankreich vom islamistischen Terror verschont, der die Welt überzog. Merah wurde gestellt, bevor er weitere Attentate ausführen konnte. Die Beamten, die unter extremer Gefahr in die Höhle des Mörders drangen, verdienen allen Respekt.

Versagte die Regierung, der Gesetzgeber? Es fehlt in Frankreich nicht an Gesetzen, um gegen Terroristen vorzugehen. Sie wurden oft verschärft. Kein Rechtsstaat aber kann jeden irgendwie Verdächtigen total überwachen, ohne sich selbst aufzugeben. Die Reaktionen der USA auf den 11. September beweisen, wie schnell das gehen kann. Frankreich wird der Versuchung widerstehen, totale Sicherheit auf Kosten der Freiheit anzustreben.

Grandeur oder Déclin

Wer trägt dann Schuld, außer dem Mörder? Die Gesellschaft? Frankreich ist ein widersprüchliches Land. Einerseits betont es seine Grandeur. "Frankreich marschiert an der Spitze der Zivilisation", meinte der Politiker François Guizot im 19. Jahrhundert. Der Anspruch besteht noch immer. Andererseits beklagen die Franzosen stets ihren "déclin", den Niedergang. Die Solidarität schwinde, die Gesellschaft löse sich auf. Die Morde von Toulouse beleben solche Klagen.

Nur: So schlimm steht es nicht um das Land. Die gerade noch wahlkämpfende Politik reagierte würdig auf die Attentate. Juden und Muslime bekundeten ihren Willen, sich nicht von einem Mörder gegeneinander aufbringen zu lassen. Die Bürger nehmen größten Anteil am Schicksal der Opfer. Die Tatsache, dass das Land sich nun selbst hinterfragt, beweist zudem: Der Gemeinsinn lebt fort.

Frankreichs Ideal als Nation, die nicht in Blut und Boden, sondern in gemeinsamen Werten wurzelt, ist jedoch so übersteigert, dass die Realität ernüchtern muss. In dieser Wirklichkeit treffen die Ursprungs-Franzosen auf fünf Millionen muslimische Einwanderer. Das Zusammenleben verlangt beiden Seiten einiges ab. Altbürger fürchten um den Charakter des abendländischen Frankreich. Neubürger wollen ihren Glauben leben. In vielen Fällen gelingt die Integration, die die "unteilbare Republik" erfordert - in etlichen anderen nicht. Der in Toulouse aufgewachsene Merah steht für extreme Integrations-Verweigerung. Dass dieser Franzose aus Hass auf sein Land andere Franzosen erschoss, macht die Menschen fassungslos. Gewiss: Merahs Fall ist singulär und nicht symptomatisch. Doch er stößt das Land nun wieder in ein ungelöstes Problem.

In den seelenlosen Trabantenstädten ballen sich junge, arbeitslose Franzosen aus zerfallenen muslimischen Immigrantenfamilien. Sie fühlen sich vom Staat vernachlässigt und von der Gesellschaft ausgegrenzt. Ihre Aussichten auf dem Arbeitsmarkt sind miserabel. Das macht diese Stiefkinder der Nation anfällig für Prediger, die ihnen eine neue Heimat im Islamismus versprechen.

Biotop der Seelenlosen

Das Problem ist seit Jahrzehnten bekannt. Verbessert hat sich nicht viel. Vor allem die extrem hohe Jugendarbeitslosigkeit in diesen Vierteln führt dazu, dass sich junge Franzosen ihrem Land verschließen. Dies allein kann Taten wie jene Merahs natürlich nicht erklären. Es beschreibt jedoch ein Biotop, in dem Extremismus gedeiht.

Nicolas Sarkozy und seine Herausforderer haben ihren Wahlkampf nun wieder aufgenommen. Sie tun gut daran. Immerhin sollen die Franzosen in vier Wochen ihren Präsidenten bestimmen, dem die Verfassung noch mehr Macht als dem amerikanischen einräumt. Der Mörder von Toulouse kann die Demokratie nicht zum Stillstand bringen. Doch täte es Frankreich gut, wenn jetzt nicht nur über schärfere Gesetze debattiert würde, sondern auch über die Problem-Banlieues und über einen neuen Anlauf zur Integration junger Muslime.

Ob er will oder nicht: Sarkozy profitiert politisch von Merahs Verbrechen. Erstens, weil er sich während der schwarzen Tage von Toulouse als besonnener Staatsmann zeigte. Zweitens, weil sich die Bürger in dramatischen Zeiten hinter der Regierung versammeln. Drittens, weil ihm die Franzosen bei der inneren Sicherheit mehr Kompetenz zubilligen als François Hollande, seinem sozialistischen Konkurrenten.

Gewonnen hat Sarkozy deshalb noch nicht. Dafür war er zu lange zu unbeliebt. An Hollande liegt es nun, darauf hinzuweisen, dass neue Gesetze nichts nutzen, wenn es an Beamten fehlt, sie umzusetzen. Auch könnte er mit Vorschlägen zur Sanierung der Ghettos punkten und aufzeigen, wie die Nation ihre verlorenen Kinder zurückgewinnen soll. Zudem wird Marine Le Pen, die Kandidatin der Rechtsradikalen, allen ihre Gretchenfrage aufzwingen: Wie haltet ihr es mit dem Islam?

Das Bedürfnis etlicher Muslime, ihren Glauben demonstrativ auszuleben und starke traditionalistische Strömungen fordern von der laizistischen Republik ein neues Regelwerk. Das unter Sarkozy beschlossene Verbot der Burka war, auch symbolisch, ein richtiger Schritt. Die Ausbildung Französisch sprechender, im Geist der Republik erzogener Imame könnte ein weiterer sein. Würdige Gebetsstätten für Muslime sollten selbstverständlich werden.

Schuld, Sinn, Lehren? Verbrechen wie jene Merahs lassen sich keiner Ratio unterwerfen. Sie sind durch noch so fähige Politiker und Geheimdienstler nicht immer zu verhindern. Eine tröstliche Antwort ist es dennoch, wenn Frankreich daran arbeitet, seinem hohen Selbstbild als unteilbare Nation gerecht zu werden.

© SZ vom 24.03.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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