Süddeutsche Zeitung

Frankreich:Wieso wieder wir?

Frankreich stellt sich nach dem schlimmsten Terroranschlag seiner Geschichte drängende Fragen - die Antworten fallen unangenehm aus. Politisch dürfte die Rechte von der Krise profitieren.

Von Stefan Ulrich

Sie hatten sich darauf vorbereitet.

Schon vor sechs Jahren trainierten französische Sicherheitskräfte speziell den Fall, dass Terroristen an mehreren Orten gleichzeitig zuschlagen, Sprengsätze zünden und Geiseln nehmen. Vor vier Jahren ordnete der Polizeipräfekt von Paris eine ähnliche Übung an. Außerdem ließen die Dienste in jüngster Zeit mehr als 200 besonders gefährdete Orte in Paris speziell erfassen - einschließlich animierter Computergrafiken, die jeden Gang, jeden Kellerraum und jede Öffnung zeigten -, darunter auch die großen Konzertsäle der Stadt. Und allein seit Januar wurden nach Informationen der Zeitung Le Monde in Frankreich fünf Pläne für Anschläge auf Konzerthallen aufgedeckt.

Doch all das verhinderte nicht, dass am Freitagabend Terroristen in Paris unter anderem einen Konzertsaal angriffen, Geiseln nahmen, Selbstmordattentate begingen, auf offener Straße wehrlose Menschen erschossen, den schlimmsten Terroranschlag der französischen Geschichte verübten. Sicherheitsexperten hatten nie ausgeschlossen, dass dies trotz aller Vorkehrungen möglich ist. Erst am 30. September hatte der Anti-Terror-Richter Marc Trévedic gewarnt, die Kämpfer der Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) hätten den Ehrgeiz und die Mittel, Frankreich mit Großaktionen anzugreifen. Die Attentate würden unvergleichlich schlimmer als bisher. "Die dunkelsten Tage liegen noch vor uns."

Der Richter sollte recht behalten. Und nun stellen sich Fragen.

Wenn die französischen Dienste so gut Bescheid wussten und vorbereitet waren, warum konnten sie diesen blutigen Freitag nicht verhindern? Warum wird gerade Frankreich derzeit so furchtbar vom Terrorismus heimgesucht, und welche politischen Folgen hat das für das Land?

Lückenlose Überwachung ist kaum möglich

Erst im Januar waren im Großraum Paris 17 Menschen bei Terrorattacken ums Leben gekommen, bei Angriffen unter anderem auf die Satirezeitschrift Charlie Hebdo. Danach hat die französische Regierung versucht, die Sicherheit zu erhöhen. Premier Manuel Valls sagte den Geheimdiensten, der Polizei und der Justiz 2500 neue Stellen zu - die allerdings noch nicht besetzt sind. Im Innenministerium wurde unter Leitung eines Präfekten ein Koordinierungsstab für alle Sicherheitsdienste aufgebaut. Die Nationalversammlung verabschiedete im Juni ein Gesetz, das den Geheimdiensten weitgehende - und daher sehr umstrittene - Befugnisse im Kampf gegen den Terror gewährte. So dürfen die Dienste die Internet- und Telefonkommunikation von Verdächtigen ohne richterlichen Beschluss überwachen. Auch dürfen sie Algorithmen verwenden, um massenhaft gesammelte Verbindungsdaten auszuwerten.

Es lässt sich also kaum sagen, dass die französische Regierung nicht vieles versucht, um ihre Bürger zu schützen. Warum also gelang es am Freitag nicht?

Das wird eines der großen Themen sein, über das die Franzosen und vor allem ihre Politiker in den kommenden Wochen streiten werden. Der nationalpopulistische, seit Jahren stärker werdende Front National von Marine Le Pen wird sich bestätigt fühlen, der sozialistischen Regierung unter Präsident François Hollande eine wachsweiche Sicherheitspolitik vorwerfen und die Schließung der Grenzen für Immigranten fordern. Ex-Präsident Nicolas Sarkozy, Chef der konservativen Republikaner, dürfte sich ähnlich positionieren.

Die Regierung aber könnte nüchtern mit einigen Zahlen kontern: In einer geheimen Datenbank von Terrorverdächtigen, FSPRT genannt und diesen März eingerichtet, stehen 11 000 Namen. Dem Innenministerium zufolge werden in Frankreich 4000 Menschen wegen möglicher Radikalisierung oder Terrorismusverdachts überwacht. Schätzungen zufolge sollen 1000 bis 1200 französische Dschihadisten im Irak und in Syrien kämpfen. Etliche von ihnen kehren wieder nach Frankreich zurück. Es ist sehr schwer, wenn nicht unmöglich, all diese Gefahrenquellen mit rechtsstaatlichen Mitteln lückenlos zu überwachen.

Woher die Täter vom Freitag stammten, ist nicht lückenlos geklärt. Die Erklärungen des französischen Präsidenten Hollande deuteten aber schon früh darauf hin, dass es sich um Ausländer wie Inländer handelte, und am Samstagnachmittag wurde die Identität eines Terroristen ermittelt, der Franzose ist.

Der Hass der Ausgeschlossenen

Das Land schockiert seit langem, dass sich - im Vergleich zu anderen europäischen Ländern - relativ viele junge Männer aus ihrem Land für den radikalen Islam oder sogar für einen islamistisch begründeten Terrorismus begeistern. Die Ursachenforschung läuft nach jedem Anschlag, so auch jetzt. Als gesichert kann gelten, dass die Perspektivlosigkeit vieler junger Franzosen aus arabischen oder subsaharischen Einwandererfamilien, die in seelenlosen Trabantenstädten mit hoher Arbeitslosigkeit und Kriminalität leben, von radikalen Predigern und Anwerbern des Terrors ausgenutzt wird. Viele arabischstämmige Jugendliche aus sozial verwahrlosten Banlieues fühlen sich von der Mehrheitsgesellschaft in Frankreich verachtet und ausgegrenzt. Einige von ihnen - und natürlich ist es nur eine kleine Minderheit - ziehen tatsächlich in den Krieg oder werden zu Attentätern im eigenen Land.

Allerdings werden auch junge Muslime aus Mittelstandsfamilien und Konvertiten zu Dschihadisten. Das Staatsfernsehen dokumentierte den Fall eines jungen Bretonen aus einer katholischen Familie, der sich im Internet radikalisierte und schließlich in den Dschihad zog.

Ein Hauptgrund, warum Frankreich derzeit so im Visier der Terroristen ist, sind die französischen Militäreinsätze in islamischen Staaten wie Libyen, Mali und Irak. Seit Ende September fliegt die Luftwaffe auch Angriffe gegen den Islamischen Staat in Syrien. Deswegen ist Frankreich bei Dschihadisten besonders verhasst. Dies wird sich noch steigern, wenn Frankreich nun in Reaktion auf die Anschläge seine Militärangriffe im Nahen Osten ausweitet. Anti-Terror-Richter Trévedic warnte im September: "Der wirkliche Krieg, den der IS auf unserem Boden führen möchte, hat noch gar nicht begonnen."

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