Frankreich:Mut zur Gedächtnislücke

Frankreich: Nathalie Loiseau tritt für La République en Marche gegen die rechtsextreme Marine Le Pen an. Dass sie an der Uni selbst zusammen mit Rechtsextremen kandidierte? Ein „Jugendfehler“.

Nathalie Loiseau tritt für La République en Marche gegen die rechtsextreme Marine Le Pen an. Dass sie an der Uni selbst zusammen mit Rechtsextremen kandidierte? Ein „Jugendfehler“.

(Foto: Joel Saget/AFP)

Nathalie Loiseau, Macrons Kandidatin für die Europawahl, hat ein Glaubwürdigkeits­problem.

Von Nadia Pantel, Paris

Noch im März hatte Nathalie Loiseau eine Fernsehdebatte mit der Rechtsextremen Marine Le Pen genutzt, um sich als Kämpferin gegen den Nationalismus in Szene zu setzen. In einer Live-Übertragung sagte die damalige Europaministerin Loiseau: "Ich gratuliere Ihnen, Marine Le Pen, weil Sie es geschafft haben, meine Meinung zu ändern. Ich werde für die Europawahl kandidieren." Es galt zwar schon länger als ausgemacht, dass Loiseau für die Macron-Partei La République en Marche (LRM) in den Europawahlkampf ziehen würde, doch von diesem Märzabend an war es offiziell: Loiseau führt die LRM-Liste an und ihre zentrale Strategie besteht darin, sich als Gegnerin der rechtsextremen Le Pen zu präsentieren.

Seit Dienstag wird Loiseaus Wahlkampf nun von einem Skandal überschattet, der ihren Status als Bollwerk gegen den Rechtspopulismus infrage stellt. Die investigative Nachrichtenseite Médiapart enthüllte am Montagabend, dass Loiseau 1984 als Studentin an der Pariser Hochschule für Politikwissenschaft, Sciences-Po, auf einer Liste für die Studentenvertretung kandidierte, auf der auch Rechtsextreme vertreten waren. Loiseau war damals 20 Jahre alt, die Hochschule besuchte sie seit 1980.

Auf Nachfragen von Médiapart reagierte das Team von Loiseau zunächst mit einem Dementi: "Sie war nie auf dieser Liste." Das von den Journalisten vorgelegte Dokumente aus dem Archiv der Hochschule, das Loiseau unter ihrem Mädchennamen Ducoulombier auf der Liste der rechten Sammelbewegung UED aufführt, sei "eine Fälschung". Nachdem die Echtheit des archivierten Wahlzettels belegt war, sagte Loiseau, sie habe, "um ganz ehrlich zu sein, diese Episode komplett vergessen". Sie habe sich schon damals "nicht besonders für diese Liste interessiert", sondern habe nur einem Freund einen Gefallen tun wollen.

Am Dienstagmorgen gab Loiseau dem Sender Franceinfo ein Interview zu den Vorwürfen. Es sei "eine echte Dummheit" auf einer Liste gewesen zu sein, "auf der auch Leute der extremen Rechten" gestanden hätten, so Loiseau. Sie sprach von einer "Jugendfehler", den sie bereue. Sie stehe jedoch dazu, Teil der gaullistischen Rechten gewesen zu sein. In den Sozialen Netzwerken veröffentlichte Loiseau am Dienstag ein Video, in dem sie sagt, es sei "empörend", dass manche sie nun in die Nähe von Rechtsextremen rückten. "Das ist das Gegenteil meines Lebens und meines Engagements seit 35 Jahren."

In einem längeren Statement, das zunächst nur an Loiseaus Parteifreunde geschickt wurde, dann aber von diesen weiterverbreitet wurde, geht die Politikerin zum Angriff auf die Journalisten von Médiapart über. Sie wirft dem Herausgeber der linken Nachrichtenseite, Edwy Plenel, vor, als junger Mann "Maoist, Unterstützer des palästinensischen Terrorismus und der Roten Khmer" gewesen zu sein. "20 Jahre alt zu sein und nicht linksextrem zu sein, das ist für Edwy Plenel unerträglich", schreibt Loiseau. Heute sei es "ihre Entscheidung, gegen die Rechtsextremen zu kämpfen, die unser Land bedrohen. Anscheinend stört dieser Kampf. Umso besser". Weiter führt sie aus, dass Sciences-Po zu ihrer Studienzeit in den 1980er-Jahren "der ruhigste, bürgerlichste, langweiligste Ort Frankreichs" gewesen sei, an dem der Extremismus keinen Platz gehabt habe.

In diesem Punkt allerdings widerspricht ihr nun Frankreichs bekanntester Extremismusexperte: Jean-Yves Camus, Direktor der Beobachtungsstelle für politische Radikalität, studierte in den frühen 1980er-Jahren an derselben Hochschule wie Loiseau. In einem Interview mit dem Nouvel Observateur sagte er am Dienstag über die UED, für die Loiseau seinerzeit kandidierte: "Das war eine radikale Studentengewerkschaft, die auch an Gewaltakten beteiligt war."

Dies gelte jedoch, so Camus, ebenso für die radikale Linke, die zur selben Zeit an der Hochschule aktiv war. Auf die Frage, ob es möglich sei, dass Loiseau nicht überblickt habe, auf was für eine Liste sie sich habe setzen lassen, antwortete Camus: "Das war keine gemäßigte Gewerkschaft, und nach drei Jahren an der Sciènes-Po konnte man das nicht übersehen." So habe es 1982 eine "riesige Prügelei" gegeben zwischen Aktivisten der extremen Linken und der extremen Rechten, an der auch Mitglieder der UED beteiligt waren, für deren Liste Loiseau später antrat.

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