Frankreich:„Mr. Brexit“ wird Premierminister

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Michel Barnier (re.) mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron im Jahr 2020, als Barnier noch Chefunterhändler der EU-Kommission war. (Foto: Ludovic Marin/DPA)

Präsident Emmanuel Macron hat den früheren EU-Kommissar Michel Barnier zum Regierungschef ernannt. Hat der 73-jährige Konservative eine Chance, Mehrheiten zu mobilisieren?

Von Oliver Meiler, Paris

Wenn es von Michel Barnier heißt, er habe einen langen Lebenslauf, dann ist das nicht nur nett gemeint. Frankreichs neuer Premierminister ist schon so lange da, in allen möglichen Ämtern und Rollen der Republik und in der Europäischen Union, als Parlamentarier und Minister und als Kommissar, dass sich die knisternde Aufregung, die solch hohe Berufungen im Normalfall im Publikum auslösen, nicht so richtig einstellen mag.

Barnier, 73 Jahre alt, gilt als nüchterner Technokrat, obschon er den Großteil seiner Karriere als politisch verortbarer, bürgerlich-konservativer und liberaler Politiker zugebracht hat. Er ist der bislang älteste Regierungschef in Frankreichs Fünfter Republik, also seit 1958. Er beerbt im Amt Gabriel Attal, den jüngsten Premier in diesen mehr als sechs Jahrzehnten. Man kann also nicht sagen, Barnier sei ein Coup für die Verzauberung.

Nach dieser Personalie hat Macron „Tag und Nacht“ gesucht

Es gab aber offenbar keinen anderen Kandidaten, der nicht Gefahr läuft, bei erster Gelegenheit abzustürzen. Das war das minimale negative Kriterium: Barnier soll nicht beim ersten Misstrauensantrag gestürzt werden können. Das neue Parlament ist in drei ungefähr gleich große, konträre Blöcke gespalten, da sind Mehrheiten gegen leichter zu mobilisieren als Mehrheiten für.

Zwei Monate hat Emmanuel Macron gebraucht, um das passende Profil zu finden. „Tag und Nacht“ habe er damit zugebracht, sagte Frankreichs Präsident, als der politische Betrieb und die Pariser Medien im Sommer ungeduldig wurden – als wollte er sich des Vorwurfs der Trödelei verwehren. Wohlgesinnte Beobachter räumten ein, Monsieur le Président habe eine fast unmögliche Lage zu verwalten gehabt. Allerdings hat er sich die selbst eingebrockt, als er nach den Europawahlen im Juni zur Verwunderung der Franzosen das Parlament auflöste und vorgezogene Parlamentswahlen beschloss. Ohne jeden Zwang.

Macron hat mehrere mögliche Kandidaten getestet in diesen zwei Monaten, linke und rechte. Auch ein Vertreter der Zivilgesellschaft war dabei. Doch bei Konsultationen mit den Fraktionen wurde schnell klar, dass keiner sicher sein konnte, länger als ein paar Wochen im Amt zu überstehen. Bei Barnier ist das vielleicht anders. Sicher für ihn stimmen werden die Republikaner, seine Partei, die paradoxerweise mit 47 Abgeordneten nur die viertgrößte Fraktion in der Assemblée Nationale stellt. Ebenfalls sicher sind ihm die Stimmen der 166 Deputierten aus Macrons zentristischem Lager, von Renaissance, MoDem und Horizons. Zusammen bringen es Zentristen und Republikaner auf 213 Sitze. Die absolute Mehrheit liegt bei 289.

Wer stimmt für, wer gegen Barnier?

Aber eben, das ist nicht so wichtig. Wichtiger ist, dass Barnier keine Mehrheit gegen sich hat. Die im Nouveau Front populaire vereinigte Linke wird gegen ihn stimmen, mit 193 Stimmen. Doch da der extrem rechte Rassemblement National von Marine Le Pen mit seinen Alliierten, insgesamt 142 Stimmen, sich nicht a priori gegen Barnier wendet, sollte der nun zumindest ein Kabinett bilden können. Bringt er dann mit seiner Regierungserklärung die Lepenisten nicht gegen sich auf, kann in seiner Vita eine neue Etappe beginnen.

Unmöglich scheint das nicht zu sein. Barnier, der früher mal als linker, sozialer Gaullist galt, hat in den vergangenen Jahren einen persönlichen Rutsch vollzogen, der ihn ganz an den rechten Rand der Républicains trug. Bei den Primärwahlen der Partei vor den Präsidentschaftswahlen 2022 sprach Barnier oft wie Marine Le Pen. Er forderte etwa ein „Moratorium der Immigration für drei bis fünf Jahre“ und wollte die Studentenvisa suspendieren. Diese ideologische Wende könnte ihm nun helfen.

Weil er zuvor lange als Kommissar und Chefunterhändler der EU, als „Mr. Brexit“, den Austritt der Briten begleitet hat, geriet er in Paris fast etwas in Vergessenheit. Er sei „Patriot und Europäer“, sagt er gern von sich, um sein Brüsseler Technokraten-Image zu korrigieren. Und tief drinnen sei er immer ein „Bergler“ geblieben: Seine Familie stammt aus den Savoyen. Bei der Urwahl seiner Partei wurde er aber nur Dritter. Hätte er gewonnen, wäre er vor zwei Jahren Macrons Gegner bei den Präsidentschaftswahlen gewesen.

Barnier hat Macron deutlich kritisiert

Die Frage ist nun, wie konfliktreich oder harmonisch er mit Macron zu regieren gedenkt. Kommt es in Frankreich zu einer Cohabitation, wie man das Zusammenleben an der Spitze der Exekutiven nennt, wenn Präsident und Premier unterschiedlichen politischen Familien angehören? Oder positioniert sich Barnier als rechte Hand von Macron? Zuletzt hat er oft kritische Worte für ihn gefunden, etwa: Macron sei „verbraucht von der Macht“. Nach den verlorenen Parlamentswahlen sah Barnier gar „den Anfang vom Ende der Macronie“ gekommen. Und nun?

Vom Präsidenten heißt es, er habe allen getesteten Kandidaten ein Bekenntnis zu seinen wichtigsten politischen Reformen abverlangt, allen voran der kontroversen Rentenreform. Barnier wird sie nicht antasten wollen, wie das ein linker Premier getan hätte. Barnier steht auch nicht für höhere Steuern. Aus dem Élysée hört man, er sei auch deshalb eine gute Wahl für den Präsidenten, weil der „Joe Biden Frankreichs“, wie Barnier da und dort schon boshaft genannt wird, keine Ambitionen für die Präsidentschaft mehr habe. Die nächste Präsidentenwahl findet 2027 statt, wenn die Republik einem geordneten Gang folgt. Aber geordnet ist spätestens seit der Auflösung des Parlaments nichts mehr.

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