In ihrer langen politischen Laufbahn hat Marine Le Pen schon viele Konjunkturen der Fortüne erlebt, zuletzt waren es fast nur Höhenflüge. Doch so bedroht wie jetzt, in diesem Herbst, war die Karriere der dreifachen Präsidentschaftskandidatin der extremen Rechten Frankreichs noch nie. In Paris hat ein Prozess wegen Veruntreuung öffentlicher europäischer Gelder begonnen, in dem sie die prominenteste und zentralste von insgesamt 27 Angeklagten ist. Vom Ausgang des Verfahrens hängt das mittelfristige Schicksal der französischen Republik ab, und das ist keine Übertreibung.
Kommt das Gericht nämlich zu dem Schluss, dass Marine Le Pen der Kopf eines „zentralisierten Betrugssystems“ war, wie die Staatsanwaltschaft annimmt, dann kann es sein, dass sie bei der nächsten Präsidentenwahl, voraussichtlich 2027, nicht antreten kann. Auf den Tatbestand stehen in Frankreich im Höchstfall zehn Jahre Haft, eine Geldstrafe von einer Million Euro und fünf bis zehn Jahre Unwählbarkeit. Die französischen Zeitungen erfuhren aus der Entourage von Le Pen, dass sich die im Sommer intensiv auf den Prozess vorbereitet habe. Sie ist selbst Anwältin von Beruf.
„Ich bin sehr gelassen“, sagte Le Pen zum Prozessauftakt
Und so war sie auch zum Auftakt am Montag dabei, stellte sich vor die Kamerateams, die sich im Pariser Palais de Justice aufgebaut hatten und sagte: „Ich bin sehr gelassen.“ Le Monde schreibt, sie nutze das Verfahren als politische Tribüne.
Le Pen hatte viel Zeit, um sich ihre Verteidigung gut zu überlegen. Begonnen haben die Ermittlungen vor mehr als zehn Jahren, als das Europäische Amt für Betrugsbekämpfung, kurz Olaf, einen anonymen Hinweis auf einen möglichen Betrugsfall erhielt. Die Pariser Staatsanwaltschaft übernahm.
Le Pens Partei, die damals noch Front National hieß, steht im Verdacht, Gelder zweckentfremdet zu haben, die das Europäische Parlament für die Arbeit der europäischen Abgeordneten zur Verfügung stellt, hauptsächlich für die Entlohnung ihrer Assistenten in Brüssel und Straßburg. Und zwar exklusiv für diese und deren Recherchen, Aktenpflege, Formulierung von Reden und Gesetzesanträgen. Die Regel ist klar: Das Geld aus Europa soll für Leistungen im Dienste und im Namen Europas gebraucht werden.
Der Front National aber, heute Rassemblement National, hat von 2004 bis 2016 offenbar im ganz großen Stil sein nationales Parteipersonal am Hauptsitz in Nanterre bei Paris damit bezahlt und vorgegeben, es arbeite für die EU. Etliche Kaderleute sind dabei, ein ehemaliger Schatzmeister, Kommunikationsexperten. Die Ermittler schätzen den so veruntreuten Betrag auf 6,8 Millionen Euro.
Auch der 96-jährige Le Pen Senior ist unter den Angeklagten
Als parlamentarische Mitarbeiterin schien etwa Catherine Griset auf, die enge Freundin und persönliche Sekretärin von Marine Le Pen. Griset argumentierte, ihre Rolle sei nun mal eine hybride, nationale und europäische Aufgaben ließen sich nicht so einfach voneinander trennen. In ihrer Zeit als angebliche politische Mitarbeiterin verbrachte Griset pro Jahr nur zwölf Stunden im Europäischen Parlament, das ließ sich leicht nachprüfen.
Zum politischen Assistenten brachte es auch Thierry Légier, Leibwächter und Fahrer der Parteispitze. Légier, 1,90 Meter groß und 97 Kilogramm schwer, arbeitet seit 1992 für die Le Pens – zunächst für Vater Jean-Marie Le Pen, den Parteigründer, und seit dessen Rückzug für Tochter Marine. Er ist immer dabei, wenn sie auftritt, imposant, ein Brocken von einem Mann, die französischen Medien nennen ihn „Gorilla“. Als die Ermittler Légier fragten, wie er zu seinem Titel kam, sagte er: „Das müssen Sie schon Jean-Marie Le Pen fragen.“
Auch Le Pen Senior ist angeklagt in dem Verfahren, doch er wurde von einer Teilnahme am Prozess dispensiert: Er ist jetzt 96 Jahre alt und gebrechlich. Allerdings wurde er am Wochenende dabei gefilmt, wie er bei sich zu Hause eine Gruppe von Sympathisanten von Blood & Honour empfing, einem Netzwerk von Neonazis. Die investigative Onlineplattform Mediapart veröffentlichte das Video. Offenbar war es Jean-Marie Le Pen, der die unlautere Querfinanzierung des Parteiapparats einst eingeführt hatte. Seine Tochter aber soll es erst zum „System“ ausgebaut haben – aus Not, offenbar.
Zum ausgiebigen Belastungsmaterial gehört die Mail des früheren Schatzmeisters der Partei, der Marine Le Pen auf die katastrophalen Finanzen hinwies, die nur über das Europäische Parlament saniert werden könnten. Zu jenem Zeitpunkt hatte die Partei 20 Millionen Euro Schulden, sie stand nahe an der Pleite und fand keine Kreditgeber. Marine Le Pen, so geht es aus den Zeugnissen hervor, soll ihre Abgeordneten angewiesen haben, nur jeweils einen Mitarbeiter anzustellen, um den Rest der üppigen Mittel kümmere sie sich persönlich.
Die Beweislast gegen Le Pen ist erdrückend, sie umfasst 2500 Dokumente, es sind Arbeitsverträge dabei, Lohnabrechnungen, Zeugenaussagen von ehemaligen und aktuellen Mitarbeitern, Mails. Das Europäische Parlament tritt im Prozess als Nebenkläger auf, das Urteil wird für Ende November erwartet.