Im Tribunal de Paris wird am Morgen dieses 31. März 2025 ein Gerichtsurteil gefällt, das die politische Gegenwart Frankreichs schlagartig verändern kann. Um 10 Uhr, im Saal 2.01. Marine Le Pen und zwei Dutzend Politiker und Angestellte ihrer Partei, des extrem rechten Rassemblement National, werden erfahren, ob das Gericht zum Schluss gekommen ist, dass sie verurteilt gehören nach dem Prozess um mutmaßliche Scheinjobs im Europaparlament. Und das könnte das Ende von Le Pens Karriere bedeuten – und damit wohl auch gleich das Ende der langen Saga der Familie Le Pen. Seit mehr als fünfzig Jahren schwirrt und spukt der Name durch die Politik und die Köpfe der Franzosen, mal lauter, mal leiser. Jean-Marie Le Pen, der Patriarch und Parteigründer, starb Anfang des Jahres, mit 96 Jahren. Seiner Tochter Marine Le Pen droht nun, wie sie das selbst nennt, der „politische Tod“.
Was wird Le Pen vorgeworfen?
Sie soll über ihre Partei europäische Gelder veruntreut haben, 4,6 Millionen Euro insgesamt. Es war Geld, das die EU für die Assistenten der Parlamentarier in Brüssel und Straßburg und für deren Dienst an Europa vorsieht – und zwar nur dafür. Le Pen aber soll damit unter anderem die Löhne ihres Bodyguards, ihrer persönlichen Sekretärin und des Personals ihres nationalen Parteiapparats in den Büros bei Paris bezahlt haben. Die Methode hatte schon ihr Vater angewandt, allerdings in einem viel kleineren Stil: Früher hatte der Front National, wie die Partei bis 2018 hieß, kaum Europaparlamentarier. Heute hat sie eine ganze Menge.
Die Tochter soll ein „System“ daraus gemacht haben. Die EU diente der europaskeptischen bis europafeindlichen Partei demnach als Cash cow. Ohne dieses Geld wäre sie pleitegegangen, denn die Parteikasse war ständig leer. Zehn Jahre dauerten die Ermittlungen der europäischen Anti-Betrugs- und Anti-Korruptions-Behörden sowie der französischen Justiz, es wurden dabei kompromittierende Dokumente gefunden. Eine Verurteilung gilt als sehr wahrscheinlich. Die Frage ist, wie genau diese formuliert wäre.
Was droht Le Pen nun?
Die Forderung der Staatsanwaltschaft lautet so: fünf Jahre Haft, davon drei auf Bewährung, 300 000 Euro Buße – und die Aberkennung des passiven Wahlrechts für fünf Jahre. Dieser dritte Teil der möglichen Strafe interessiert am meisten. Die Franzosen nennen es inéligibilité, Unwählbarkeit. Die Staatsanwaltschaft forderte zudem, dass die sogenannte Klausel der exécution provisoire zur Anwendung kommt, dass das Urteil also sofort wirksam wäre und Le Pen es mit ihrer Berufung dagegen nicht stoppen oder verzögern könnte. Sollte sie also nach dieser viel diskutierten Formel für fünf Jahre nicht an Wahlen teilnehmen können, wäre sie disqualifiziert für die nächste Präsidentschaftswahl – die findet spätestens 2027 statt.
Lassen die drei Richter die Klausel jedoch weg, wie das in ihrem Ermessen liegt, kann Le Pen das Urteil anfechten. Marine Le Pen hat sich schon dreimal um das höchste Amt im Staat beworben; für das nächste Mal gelten ihre Chancen als besser denn je. Wäre sie verhindert, würde wohl ihr politischer Ziehsohn an ihrer Stelle antreten, der erst 29-jährige Parteipräsident Jordan Bardella.
Wie hat sich Le Pen verteidigt?
Leidenschaftlich, es ging ja schließlich um alles: Sie war an fast jedem Verhandlungstag im Gericht. Und mit Methodik: Sie ist selbst Anwältin. Zunächst argumentierte Le Pen in der Sache. Sie sagte, die politische Arbeit einer Partei sei nicht geografisch teilbar, alles fließe zusammen. Doch da die EU klare, allen bekannte Regeln definiert hat, wie das Geld aus ihren Töpfen fürs Parlament eingesetzt werden muss, griff das Argument von Beginn an zu kurz. Außerdem gibt es Beweisstücke, etwa eine explizite Mail des Schatzmeisters der Partei, die zeigen, dass beim Front National alle Bescheid wussten. Und so änderte Le Pen ihre Verteidigungsstrategie, im Prozess und in den Medien. Sie sagte nun, „man“ wolle verhindern, dass die Franzosen wählen könnten, wen sie wählen wollten. Die Justiz wende sich gegen das Volk, das sei eine „Verweigerung der Demokratie“.
Was ist an der angeblich politisierten, parteiischen Justiz dran?
Nichts. Auch andere Parteien wurden schon wegen desselben Vergehens verurteilt. Allerdings war noch keine französische Partei dabei so weit gegangen wie die Partei der Le Pens: 4,6 Millionen Euro. Außerdem hätte die Staatsanwaltschaft die Möglichkeit gehabt, eine doppelt so hohe Strafe zu fordern: zehn Jahre Haft, eine Million Euro Buße, zehn Jahre Unwählbarkeit. Der Antrag für eine Anwendung der exécution provisoire, die so viel zu reden gibt, rechtfertigt die Anklage damit, dass die Partei über die Jahre alles darangesetzt habe, den Gang der Justiz zu behindern.
Die Klausel fußt auf einem Gesetz aus dem Jahr 2016, dessen Ziel es ist, mehr Anstand und Korrektheit ins öffentliche, politische Leben des Landes zu bringen. Ob die drei Richter im Prozess sie auch tatsächlich anwenden, ist offen.
Wie sehen die Franzosen diesen Prozess?
Das kommt darauf an, wen man fragt. Le Pens treueste Anhänger sehen es natürlich wie „Marine“, ihre Unterstützung dürfte bei einer Verurteilung eher noch größer werden: diese Richter! Dann gibt es unter den Wählern des Rassemblement National jene, die glauben, dass Jordan Bardella die besseren Wahlchancen hätte als Le Pen.
Außerdem gibt es Solidarische anderer Parteien – prominente Stimmen aus der bürgerlichen Rechten und der radikalen Linken, die finden, eine Disqualifizierung Le Pens wäre unverhältnismäßig. Bei diesen Politikern spielt auch ein Selbsterhaltungsreflex eine Rolle: Wer weiß schon, wen es als Nächsten trifft? Alle anderen Franzosen sagen sich wohl: Vor dem Gesetz sollen alle Bürger gleich sein.