Präsidentschaftswahlkampf in Frankreich:Macron stürzt sich ins Getümmel

Präsidentschaftswahlkampf in Frankreich: In Wahlkampfphase zwei kämpft Emmanuel Macron aktiv um Stimmen - hier im ostfranzösischen Châtenois.

In Wahlkampfphase zwei kämpft Emmanuel Macron aktiv um Stimmen - hier im ostfranzösischen Châtenois.

(Foto: Elyxandro Cegarra/Imago)

"Sie sind der größte Nichtsnutz unter allen Präsidenten": Vor der Stichwahl gegen Marine Le Pen ist Emmanuel Macron intensiv auf Stimmenfang. Da kann es auch mal ruppig werden.

Von Thomas Kirchner, Paris

Der Kandidat ist schon zwei Stunden zu spät. Der mutmaßliche russische Giftgasangriff in der Ukraine hat ihn aufgehalten. Eigentlich soll Emmanuel Macron an diesem Dienstagmittag mit Ärztinnen und Pflegern des Krankenhauses von Mulhouse zu einem runden Tisch zusammenkommen. Aber bevor er das Gebäude betritt, macht er kehrt und spurtet mit großen Schritten auf die Menge auf der anderen Straßenseite zu.

Noch elf Tage bis zur Stichwahl. Die erste Runde hat der Präsident gewonnen, fast ohne Wahlkampf. Nun geht es gegen Marine Le Pen, die Rechtsextremistin, die Frankreich und Europa auf den Kopf stellen möchte. Es wird wohl sehr knapp. Macron muss jetzt dringend ran, ran an die Menschen.

Gleich der erste hinter dem Absperrgitter ist ein harter Brocken. Ein Pfleger, 61, tief enttäuscht von der Politik. Er heile Leute, verdiene aber viel zu wenig, klagt er, "1860 Euro hatte ich letzten Monat", die Arbeitsbedingungen seien miserabel. Das sind bittere Worte, denn die Elsass-Stadt Mulhouse war 2020 ein früher Hotspot der Pandemie, das Militär musste wegen der vielen Patienten ein Zelthospital aufstellen, genau an dieser Stelle. Hat sich denn nichts verbessert?

Der Mann redet sich in Rage, fuchtelt mit dem Finger, wird immer aufdringlicher. Macron bleibt freundlich und gelassen, weicht nicht zurück, er lehnt sich nach vorn auf das Gitter, fixiert sein Gegenüber mit den Augen. Und beginnt zu erklären: was er alles getan habe und was er noch plane, um das Gesundheitswesen zu verbessern. Nach und nach verfliegt die Aggression, es entsteht ein viertelstündiges Gespräch, ein Dialog.

Den Jubel seiner Fans nimmt er gern mit - aber er will ja neue Wähler gewinnen

Macron weiß, dass es nicht auf diesen einen Wähler ankommt. Aber ein Dutzend Kameras und Mikrofone umringen ihn, sie werden diese und viele ähnliche Begegnungen, für die sich der Kandidat auffällig viel Zeit nimmt an diesem Tag, auf die Fernseher und Handys der Franzosen senden. Wenn ihm, wie kurz darauf, Pflegerinnen zujubeln, wenn die Einwohner des Dörfchens Châtenois am Fuße der Vogesen und Tausende vor der Kathedrale von Straßburg "Macron - Président" oder "Vive l'Europe" skandieren, nimmt er das gerne mit.

Aber er will ja neue Wähler gewinnen, will jene überzeugen, die in der ersten Runde für die ganz rechten Kandidaten stimmten. Oder für den überraschend starken Linksaußen Jean-Luc Mélenchon - denn hier liegt das größte Potenzial, für Le Pen wie Macron.

Deswegen ist er am Montag in den Norden gefahren, ins ehemalige Stahl- und Kohlerevier: Le-Pen-Land. Und nun in die Gegend um das grün regierte Straßburg, das eine Mélenchon-Mehrheit verzeichnete in der ersten Runde. Viele haben den Linken nach eigenen Aussagen weniger aus Überzeugung gewählt als aus dem Wunsch heraus, ein Zeichen des Protests zu setzen. Mit ihnen muss der Élysée-Bewohner die Konfrontation suchen - und dabei ruhig bleiben, sich nicht provozieren lassen. Auch wenn es schwerfällt, wie in Châtenois, als ihm ein Grauhaariger im Karohemd ins Gesicht schreit: "Sie sind der größte Nichtsnutz unter allen Präsidenten der Fünften Republik, die ich erlebt habe!"

Wichtiger ist, dass der Mann, ein Fabrikarbeiter, danach seine Angst vor Macrons geplanter Rentenreform äußert, wie viele an diesem Tag. Macron hatte die Reform, zentraler Punkt in seinem Programm von 2017, wegen der Gelbwesten-Proteste und der Pandemie gleich zweimal ausgesetzt, jetzt soll sie endlich kommen. Die Franzosen gehen vergleichsweise früh in Pension, er will die vielen Sonderrechte für einzelne Berufsgruppen kippen, das Eintrittsalter von 62 auf 65 Jahre erhöhen und damit andere Leistungen finanzieren wie eine Erhöhung der Grundrente auf 1100 Euro. Irgendwoher müsse das Geld ja kommen, meint Macron, der Liberale: "Man kann keinen Reichtum verteilen, den man nicht geschaffen hat."

Seine unbeliebte Rentenreform? Man müsse da den "politischen Kontext" beachten

Doch diese Pläne sind auch das mit Abstand größte Hindernis beim Stimmenfischen auf linkem Terrain, weshalb Macron gleich am Montag kräftig zurückruderte, schon wieder. Er sei bereit, "über den Rhythmus und die Eckpunkte" der Reform mit allen politischen Kräften zu diskutieren, ohnehin würde das mit den 65 Jahren frühestens 2030 umgesetzt, ein Referendum sei möglich und auch eine "Überprüfungsklausel". Das ehrgeizige Vorhaben, das Frankreichs Rentensystem dem deutschen annähern würde, kann wenn überhaupt wohl nur noch in abgeschwächter Version umgesetzt werden. In Macrons Umgebung heißt es, man dürfe den "politischen Kontext" eben nicht außer acht lassen. Vielleicht ist es der Schritt, der ihm die Wiederwahl sichert.

Umso mehr verstärkt nun auch die Chefin des Rassemblement National ihre Anstrengungen, es läuft wie beim Pingpong zwischen den beiden. Als Le Pens Team am Montag erfuhr, dass und wohin Macron auf Tour ging, änderte es sofort das Programm und buchte einen Besuch bei einem Getreidebauern im Burgund. Das Thema Ökologie und Landwirtschaft wird Macron nun am Donnerstag beackern. Und als Le Pen die ihr gegenüber kritischen Journalisten der Politikunterhaltungsshow "Quotidien" von einer Pressekonferenz ausschloss, warnte Macron umgehend vor einem "Abdriften ins Autoritäre".

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