Um 19 Uhr am Montagabend tritt der Generalsekretär des Élysée, Alexis Kohler, vor die Presse und liest die Namen der neuen Ministerinnen und Minister vor. Eine kurze Zeremonie, die eher wie das Durchgehen einer Anwesenheitsliste wirkt. Nur dass in diesen paar Minuten niemand routiniert zuhört, sondern im selben Augenblick die Analyse beginnt, welche politische Strategie von Präsident Emmanuel Macron sich hinter der Zusammenstellung der Namen wohl verbergen mag.
Das Spektakulärste zuerst: Der Anwalt Éric Dupond-Moretti wird neuer Justizminister. Dupond-Moretti ist in seiner Arbeit vor Gericht so meinungsstark und medienwirksam, dass ihm bereits ein Theaterstück und eine Filmrolle auf den Leib geschrieben worden sind. Nun wird er die Nachfolge von Nicole Belloubet antreten.
Marseilles grüne Bürgermeisterin:Eine neue Ikone der Linken
Die größte Veränderung erlebt Frankreich derzeit nicht in Paris, sondern abseits der Hauptstadt am Mittelmeer: In Marseille wird die neu gewählte Bürgermeisterin Michèle Rubirola zum Politstar. Dabei war ihr Vorgehen anfangs umstritten.
Die zweite Überraschung dieses Abends ist der Name der künftigen Innenministers. Das Amt wird der bisherige Haushaltsminister Gérald Darmanin übernehmen. Der 37-Jährige ist einer der wenigen Kandidaten der Regierungspartei La République en Marche, dem es in der just abgeschlossenen Kommunalwahl gelungen war, Bürgermeister zu werden. Allerdings bei einer Wahlbeteiligung von nur 25 Prozent. Darmanin folgt auf Christophe Castaner an der Spitze des Innenressorts, der es in den vergangenen Wochen geschafft hatte, sowohl in der Bevölkerung als auch in der Polizei an Rückhalt einzubüßen. Mit Castaner verlässt einer von Macrons langjährigen Mitstreitern die Regierung.
Der frühere Sozialist Castaner sprach kurz nach Macrons Sieg bei der Präsidentschaftswahl 2017 davon, dass seine Bewunderung für Macron eine "Dimension von Liebe" habe. Christophe Castaner brachte Demonstrierende verschiedener Lager gegen sich auf, weil er sich weigerte von "Polizeigewalt" zu sprechen, obwohl mehr als 20 Protestierende innerhalb weniger Monate ein Auge durch Hartgummigeschosse der Polizei verloren. Doch sehen sich auch die Polizeigewerkschaften nicht mehr von Castaner vertreten. Im Rahmen der Debatten um rassistische Strukturen innerhalb der Polizei hatte der bisherige Innenminister Anfang Juni gesagt, "jeder Verdacht" rassistischen Verhaltens könne zur Dienstsuspendierung führen. Seitdem demonstrieren Polizisten gegen Castaner und legen demonstrativ ihre Diensthandschellen nieder. Sie werfen Castaner vor, die Unschuldsvermutung aufheben zu wollen. Gérald Darmanin soll Ministerium und Polizisten nun wieder versöhnen.
Neubesetzt wurden auch das Umwelt-, das Kultur-, das Arbeits- und das Landwirtschaftsministerium. Barbara Pompili, Mitglied der Parti écologiste, einer Abspaltung von Frankreichs größter, grüner Partei EELV, wird Frankreichs nächste Umweltministerin. Das Umweltministerium wurde in der Aufzählung des Élysée-Generalsekretärs direkt an zweiter Stelle genannt, nach dem Außenministerium, das Ministerium soll also an Gewicht gewinnen. Damit reagiert Präsident Emmanuel Macron unter anderem auf den wachsenden Erfolg der französischen Grünen. Elisabeth Borne, die bisher das Umweltministerium führte, übernimmt stattdessen das Ministerium für Arbeit. Die bisherige Staatssekretärin für Europa, Amélia de Montchalin, steht künftig an der Spitze des Ministeriums für den Öffentlichen Dienst.
In ihren Ämtern bleiben hingegen der Außenminister Jean-Yves Le Drian, der Gesundheitsminister Olivier Véran, ebenso der Wirtschaftsminister Bruno Le Maire sowie die Hochschulministerin Frédérique Vidal, Verteidigungsministerin Florence Parly und Bildungsminister Jean-Michel Blanquer.
Ex-Premier Philippe hatte in deutlich höhere Beliebtheitswerte als Macron
Es war der Staatspräsident selbst, der die Aufregung um diese neue Regierung in den vergangenen Tagen schon ein wenig gedämpft hatte. Das "Projekt", für dass er 2017 von den Franzosen gewählt worden sei, bleibe weiterhin "das Herzstück meiner Politik", schrieb Emmanuel Macron am Sonntagnachmittag auf Twitter. Doch es müsse ein "neuer Weg eingeschlagen" werden, um auf die "internationalen Umwälzungen und Krisen" zu reagieren.
Wie diese Zeilen zu lesen sind, das hatte Macron bereits am Freitag deutlich gemacht. Da ernannte er den 55 Jahre alten politischen Spitzenbeamten Jean Castex zum neuen Premierminster. Es war eine Personalentscheidung, die zeigte, dass die "Neuerfindung", von der Macron seit Wochen gesprochen hat, eher ein Nachjustieren denn einen Bruch darstellen wird.
Ebenso wie sein Vorgänger Édouard Philippe war der neue Regierungschef Castex bis zum Amtsantritt Mitglied der konservativen Republikaner. Castex erarbeitete sich in den Wochen nach der Ausgangssperre den Respekt des Präsidenten. Nicht zuletzt organisierte er die Durchführung der stufenweisen Lockerung der Beschränkungen im Kampf gegen die Corona-Pandemie. Die Entscheidung für Jean Castex wird von Beobachtern als Signal gewertet, dass Emmanuel Macron sich nicht erneut von seinem Premierminister in den Schatten gestellt sehen möchte.
Der zurückgetretene Ex-Premier Philippe hatte in den vergangenen Monaten deutlich höhere Beliebtheitswerte als Macron selbst. Folgerichtig werden die Franzosen auf Castex' Antrittsrede noch eine Weile warten müssen. Am Freitag hatte der neue Premier gesagt, er werde "vor Mitte Juli" sprechen. Am Montag griff Macron dann korrigierend in die Agenda seines Regierungschefs ein.
Macron wird am französischen Nationalfeiertag, dem 14. Juli, eine Rede an die Nation halten. Der Auftritt von Castex soll erst danach stattfinden.