Bei den Le Pens ist auch das Trauern politisch. Keine Träne ist privat, kein nachgerufenes Wort, nun, da der Familienpatriarch Jean-Marie Le Pen, jahrzehntelang Kopf der extremen Rechten Frankreichs, im Alter von 96 Jahren gestorben ist: Alles dient der Exegese, auch der Deutung der Zukunft. Es geht immerhin um die Zukunft des Landes.
Darum hören die Franzosen nun ganz genau hin, wenn die Tochter und politische Erbin des „Teufels der Republik“, wie Jean-Marie Le Pen genannt wurde, ihrem Vater nachweint. Und das ist tatsächlich interessant, weit über das Private hinaus. Nach der Beerdigung in Trinité-sur-Mer, dem Geburtsort in der Bretagne, sagte Marine Le Pen der rechten Sonntagszeitung Journal du Dimanche, sie mache sich große Vorwürfe dafür, dass sie 2015 ihren Vater aus der Partei geworfen habe, die der ein halbes Jahrhundert davor gegründet hatte. „Ich werde mir diese Entscheidung nie verzeihen, denn sie hat ihn zutiefst getroffen“, sagte sie. Das sei eine der schwierigsten Entscheidungen ihres Lebens gewesen. „Bis zum Ende meiner Existenz werde ich mich fragen: Hätte ich eine Alternative gehabt?“
Jean-Marie Le Pen war ein notorischer Antisemit, Rassist und Revisionist
Die offensichtliche Antwort auf diese Frage ist: nein. Dass sich Marine Le Pen dennoch hinterfragt, stellt eine zentrale Passage ihres politischen Aufstiegs infrage, nämlich den viel zitierten Bruch mit ihrem Vater. Zur Erinnerung: Jean-Marie Le Pen war ein notorischer Antisemit, Rassist und Revisionist. Er war oft verurteilt worden dafür. Er zeigte auch nie Reue, bis zum Tod nicht, wie Le Monde jetzt erinnert. Mehr als 20 Mal habe man sich mit Jean-Marie Le Pen in den letzten Jahren seines Lebens getroffen, schreibt die Zeitung, und immer habe er seine Ansichten verteidigt, auch die Aussage, dass die Gaskammern ein „Detail des Zweiten Weltkriegs“ gewesen seien.
Marine Le Pen übernahm die Partei 2011, damals hieß sie noch Front National. Es war ein dynastischer Übergang, eine Familienangelegenheit. Vater Le Pen hatte den Namen mit seinem rhetorischen Talent und seiner Unverfrorenheit zu einer Marke gemacht. Die war toxisch, polarisierend, aber wirksam. Die Tochter versprach, sie würde die Partei vom historischen Ballast befreien, die der Senior mit sich herumtrug. Aber auf die Marke mochte sie nicht verzichten: Sie ist das Kapital, das politische Geschäft der Familie.
Jean-Marie Le Pen ertrug nur leidlich, dass seine Tochter sein Vermächtnis zu korrigieren versuchte. Er empfand das wie einen Verrat in der Familie. Und so schlug er oft quer, wahrscheinlich auch, um ihr zu schaden. Selbst wollte er nie an die Macht, er gefiel sich in der Rolle des Parias, des Polterers. Als er es 2002 zur großen Überraschung aller, auch seiner eigenen, in die zweite Runde der Präsidentschaftswahl schaffte, wirkte er ohnmächtig, ja irritiert: Er wollte nie Präsident werden. Es reichte ihm, dem Land seine Themen aufzuzwingen, und das gelang ihm. Frankreich sollte nun ständig über Immigration, Identität und Sicherheit reden.
Bei der Tochter ist das anders: Marine Le Pen will die Macht. Wenn sie heute so nahe dran ist, wie es ihr Vater nie war, dann liegt das an einer erfolgreichen, gezielten und geduldigen Kampagne – an der sogenannten dédiabolisation, der Entteufelung. So nennt sie das selbst auch. Die Partei sollte breit wählbar werden. 2015 war ein Schlüsselmoment. Vater Le Pen hatte mal wieder Unfassbares gesagt. Die deutsche Besatzung während des Zweiten Weltkriegs beschrieb er als „gar nicht besonders inhuman“, und Patrick Bruel, dem berühmten Sänger, wünschte er eine „Ofenfüllung“. Bruel ist Jude. Die Aufregung war groß, Le Pen war mal wieder Le Pen gewesen. Er sabotierte den Aufstieg der Tochter. Und so warf sie ihn raus.
Die Lepenisten rechnen damit, dass ihre Chefin noch beliebter wird
Der Bruch mit dem Vater hat den Lepenisten bisher immer als bester Beleg dafür gegolten, dass der Generationenwechsel in der Familie auch die Partei verwandelt habe. Inhaltlich und plastisch. Doch wenn Marine Le Pen sagt, sie verzeihe sich den Rauswurf nicht, sie werde sich immer hinterfragen, ob er richtig war, relativiert das die historische Passage, es schwächt die Erzählung.
War der Bruch am Ende nur Opportunismus? Haben sich die Wähler von der Operation der Normalisierung blenden lassen? Sind in ihrem Programm nicht alle zentralen Punkte des väterlichen Programms drin, auch der zentralste von allen: die nationale Präferenz? Und was ist mit dem neuen Glanz der Marke, dem neuen Leumund? Waren vor den jüngsten Parlamentswahlen nicht Dutzende Kandidaten von Marine Le Pens Partei wegen antisemitischer, rassistischer oder homophober Äußerungen aufgefallen?
In den französischen Medien fragt man sich deshalb, ob der Tod des „Teufels“ die Partei tatsächlich befreit, ob er den Schlusspunkt der dédiabolisation setzt, ob damit das Kapitel des Vaters abgeschlossen ist. Oder ob die Erinnerung an den Patriarchen nur wieder den Blick schärft auf die wahre Natur dieser Partei.
Die Lepenisten rechnen mit einem weiteren Anstieg der Beliebtheit ihrer Chefin: Marine Le Pen ist bereits die populärste Politikerin im Land. Dass die Reaktionen auf den Tod ihres Vaters gemischt ausfallen würden, war absehbar. Jean-Marie Le Pen löste nun mal immer starke Gefühle aus, bei seinen Freunden wie bei seinen Gegnern. In Paris, Marseille und Lyon feierten Gegner der extremen Rechten mit Champagner und Chören und Feuerwerk – etwa so, wie man das aus Ländern kennt, die den Tod von Tyrannen begehen.
Auffällig sanftmütig gestimmt waren rechte und bürgerliche Politiker, als sie dem alten Le Pen nachriefen. Selbst François Bayrou, Frankreichs zentristischer Premierminister, nannte Le Pen einen „Kämpfer“, dessen Antisemitismus und Rassismus beschrieb er als „Polemiken“. Das trug ihm viel Kritik ein. Bayrou, der bereits um sein politisches Überleben kämpft, hofft wohl, dass ihm die netten Worte etwas Gunst der extremen Rechten einbringt.
Nüchtern blieb nur das Élysée: „Die Geschichte wird über ihn richten“, heißt es in einem Communiqué des Präsidialamtes zu Le Pen. Wobei: Die Geschichte ist fließend, bei den Le Pens ist sie auch Gegenwart. Le Monde schreibt in einem Kommentar: „Jean-Marie Le Pen mag tot sein, aber er ist immer noch da.“