Süddeutsche Zeitung

Frankreich:Wie Marine Le Pen von der Rentendebatte profitiert

Während die Menschen in Frankreich gegen die Rentenreform protestieren, bleibt eine Partei auffällig ruhig: der Rassemblement National. Die Strategie scheint aufzugehen.

Von Kathrin Müller-Lancé, Paris

Es war ein seltsames Spektakel, als vor zwei Wochen die Debatte über die Rentenreform in der Nationalversammlung endete. Die Stimme des Arbeitsministers krächzte vor Erschöpfung, als er kurz vor Mitternacht seine letzte Rede hielt. Die Abgeordneten des linken Nupes-Bündnisses verließen schimpfend den Saal, einige stimmten den Gelbwesten-Protestgesang "On est là" ("Wir sind da") an. Die Abgeordneten der anderen Fraktionen konterten mit einer Marseillaise.

Es sangen zusammen: Mitglieder von Macrons Partei Renaissance, von den konservativen Republikanern - und dem extrem rechten Rassemblement National (RN). Für einen kurzen Moment scheint die extrem Rechte dort angekommen zu sein, wo sie immer hinwollte: mitten im politischen Establishment, Seite an Seite mit den anderen Parteien.

Während Frankreich über die Rente streitet und sich Regierung, Gewerkschaften und die linke Opposition hart angehen, scheint vor allem eine Partei zu profitieren: der Rassemblement National. "Die leise Eroberung" titelte das Magazin L'Obs vor Kurzem, "Marine Le Pen ist in allen Köpfen", schrieb die Zeitung Le Monde.

Die rechtsextreme Partei ist beliebter denn je

Bei den aufgewühlten Debatten im Parlament fielen die extrem Rechten kaum auf, weder durch Zwischenrufe im Parlament noch durch Vorschläge inhaltlicher Art. Trotzdem ist die Partei beliebter denn je. In einer Umfrage des Ifop-Instituts kürten die Befragten kürzlich Marine Le Pen zu der Persönlichkeit, die den Protest gegen die Rentenreform am besten verkörpere - noch vor dem Altlinken Jean-Luc Mélenchon und vor den Gewerkschaftsführern. Indem sie wenig tun, scheinen Marine Le Pen und ihre Partei im Moment viel richtig zu machen.

Dabei ist Le Pens Position beim Thema Rente längst nicht so eindeutig wie die ihrer Gegner. Einerseits kritisiert sie die Reform, will sie im Parlament blockieren, nennt sie "ungerecht", "nutzlos" und sogar "so sadistisch, wie wenn ein Kind einer Fliege die Flügel ausrupft". Andererseits weigert sich die Chefin des Rassemblement National, ihre Anhänger zum Streik oder Protest aufzurufen.

Wenn am Dienstag dieser Woche vermutlich wieder Hunderttausende Französinnen und Franzosen nicht zur Arbeit und stattdessen auf die Straße gehen, werden Marine Le Pen und ihre Leute nicht dabei sein. Der Straßenkampf passt nicht zu dem seriösen Bild, das die Politikerin inzwischen von sich und ihrer Partei zeichnen möchte. Wobei zur Wahrheit auch gehört, dass Gewerkschaften und Linke deutlich gemacht haben, dass die extreme Rechte bei ihren Protesten gar nicht erwünscht ist.

"Marine Le Pen denkt schon jetzt an 2027", sagt der Politikwissenschaftler Bruno Cautrès von der Hochschule Sciences Po Paris. Dann steht in Frankreich die nächste Präsidentschaftswahl an, und bei der kann Emmanuel Macron nicht mehr antreten. Le Pens Herausforderung sei es, so Cautrès, sich bis dahin als Kandidatin zu präsentieren, der man das Amt zutrauen kann.

"Marine Le Pen und ihre Partei wollen zeigen, dass man sie ernst nehmen kann, jetzt im Parlament, und möglicherweise künftig in einer Regierung", sagt auch Jean-Yves Camus, der am Pariser Institut für internationale und strategische Beziehungen (Iris) zum Thema Rechtsextremismus forscht. Seit den Parlamentswahlen im vergangenen Jahr ist der Rassemblement National so stark wie noch nie. Mit 88 Abgeordneten stellt er die größte Oppositionsfraktion in der Nationalversammlung.

Plötzlich überrascht Le Pen mit einem Misstrauensantrag

Schon lange arbeitet Marine Le Pen am Image ihrer Partei. In Paris spricht man auch von der "Krawattenstrategie": Nach der Parlamentswahl im vergangenen Jahr soll die Parteichefin ihre männlichen Abgeordneten angewiesen haben, sich für den Plenarsaal anständig anzuziehen.

Während das linke Nupes-Bündnis die Rentendebatte im Parlament durch Tausende Änderungsanträge blockierte und etliche Ordnungsrufe kassierte, hielten sich die Abgeordneten des RN im Hintergrund. Nur geschmeidig gaben sich die extrem Rechten trotzdem nicht. Im Laufe der Debatte überraschte Marine Le Pen mit einem Misstrauensantrag gegen die Regierung. Der Antrag scheiterte, nachdem keine andere Fraktion mit den Rechtsnationalen stimmte.

"Marine Le Pen muss das Gleichgewicht halten", sagt Camus. Einerseits müsse sie möglichst professionell auftreten, andererseits aber auch zeigen, dass sie den Widerstand der Bevölkerung wahrnimmt und sich der Regierung entgegenstellt. Ein großer Teil der RN-Wähler stammt aus dem Milieu, das bei der Reform besonders schlecht wegkommt: Menschen, die früh angefangen haben zu arbeiten und wenig verdienen. "Marine Le Pen muss zeigen, dass sie deren Sorgen hört. Und gleichzeitig um neue, bürgerliche Wähler werben", sagt Camus.

Dass Marine Le Pens eigene Vorschläge zur Rentenpolitik wenig beständig sind, scheint ihrer Beliebtheit nicht zu schaden. Lange forderte Le Pen die Rückkehr zur Rente mit 60, im vergangenen Wahlkampf dann plädierte sie für einen allgemeinen Renteneintritt ab 62 Jahren mit Ausnahmen für alle, die besonders früh angefangen haben zu arbeiten. Während das linke Nupes-Bündnis vorschlägt, die Rentenkassen durch eine höhere Besteuerung von Unternehmen aufzufüllen, hält sich der RN mit Gegenvorschlägen zurück. Die Beiträge seiner Abgeordneten in der Parlamentsdebatte zielten eher auf eine Forderung, die der RN schon lange vertritt: dass die Französinnen und Franzosen mehr Kinder bekommen sollen.

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