Frankreich:In der Schusslinie

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Das Gefühl, Zielscheiben zu sein: Polizisten demonstrieren gegen ihre Arbeitsbedingungen vor dem Revier in Champigny-sur-Marne bei Paris, das in der Nacht zum Sonntag von etwa 40 Leuten mit Feuerwerkskörpern beschossen wurde, sie schlugen Scheiben ein und demolierten Einsatzwagen. (Foto: MARTIN BUREAU/AFP)

Vermummte haben eine Wache außerhalb von Paris mit Eisenstangen und Feuerwerkskörpern angegriffen. Der Vorfall befeuert die Debatte über Gewalt - von Seiten der Polizei, aber eben auch gegen sie.

Von Nadia Pantel, Champigny-sur-Marne

Zwei Tage nach der Tat haben sie sich in Champigny vor ihrer Wache aufgebaut. "Wenn das so weitergeht, dann gibt es bald Tote, auf der einen oder auf der anderen Seite", ruft ein Mann in sein Megafon, vor ihm stehen gut 50 Polizistinnen und Polizisten, manche nicken. Dort, wo sie jetzt demonstrieren, standen in der Nacht von Samstag auf Sonntag zwei ihrer Kollegen, um eine kurze Zigarettenpause zu machen, als 40 Vermummte anrückten. Die Polizisten flohen zurück ins Gebäude, die Vermummten bearbeiteten die Glastür mit Eisenstangen. Eine Stunde lang belagerten sie die Polizeiwache, warfen Boulekugeln und Böller gegen die Scheiben, setzen Feuerwerksraketen als Geschosse ein. Die Attacke von Champigny ist der zweite Angriff auf Polizeibeamte im Großraum Paris binnen weniger Tage. In der Nacht zum 8. Oktober waren in Herblay-sur-Seine zwei Beamte von drei Männern so heftig verletzt worden, dass einer der Polizisten in Lebensgefahr schwebte.

"Wir sind hier doch nur noch eine Zielscheibe", sagt Benjamin Thepot. Zur Illustration halten er und seine Kollegen sich die schwarz-weißen Silhouetten vor die Brust, mit denen sie am Schießstand das Zielen üben. Seit drei Jahren ist Thepot bei Frankreichs größter Polizeigewerkschaft Unité SGP der Ansprechpartner für die Kollegen in Champigny. "Die Autorität der Kollegen wird immer offensiver in Frage gestellt. Hier wird offen gedealt, und niemand hat Angst vor Strafen", sagt Thepot.

Das Revier habe ein "feindliches Umfeld", sagt ein Beamter. Er will Verstärkung, nicht Ministerbesuch

Am Sonntag nach dem Angriff auf die Polizei kam Innenminister Gérald Darmanin nach Champigny, um den Polizisten Unterstützung zuzusichern. Am Montag sagte Premier Jean Castex, man werde die Täter "unerbittlich" verfolgen. Doch in Champigny sind das große Worte, die wenig mit dem Alltag zu tun haben. "Wir sind ganz normale Beamten, die alles hinkriegen sollen. Gegen Drogenhandel kämpfen. Und im Alltag die Bürger schützen. Aber um unsere Sicherheit kümmert sich keiner" - Thepot beschreibt die Welt rund um die Polizeiwache als "feindliches Umfeld". Er will keine Ermutigungen der Minister, er will Personalverstärkung, bessere Dienstwagen und Vorgesetzte, die "sich auch mal für unsere Sorgen interessieren".

Das sogenannte feindliche Umfeld heißt Bois-l'Abbé, eine Hochhaussiedlung im Osten von Paris. Auf den Fassaden haben Regen und Abgase graue Streifen hinterlassen, wer Drogen sucht, findet sie zum Beispiel an der Hausecke, gegenüber vom Schulhof, 100 Meter von der Polizeiwache entfernt. Hinter der Polizeiwache liegt die Moschee, vor ihr der Supermarkt, die Beamten sitzen mitten im vertikal aufgetürmten Dorf. Als in der Samstagnacht der Raketenbeschuss losging, konnte man das Feuerwerk von Tausenden Wohnungen aus sehen.

Vier Schüler, 16 Jahre alt, beobachten die Demonstration der Polizisten von der gegenüberliegenden Straßenseite aus. Ihre Namen wollen sie nicht sagen. Einer von ihnen war in der Samstagnacht noch kurz vor dem Angriff vor der Polizeiwache. "Da gegenüber haben sie ein Rap-Video gedreht. Eigentlich war es ein netter Abend. Aber es nervt, dass man hier ständig an der Polizei vorbei muss, egal wo man hinwill." Ist es nicht gut, wenn die Polizei wirklich mitbekommt, was passiert? "Na ja, für die Polizei ist das nicht so gut gelaufen hier mitten drin, oder?" - Die vier sind sich im Kern einig: Man sollte keinen mit Eisenstangen angreifen. Aber die Polizisten haben provoziert. Und deshalb Ärger bekommen. "Leben Sie hier mal als Schwarzer", sagt ein Junge, "dann können Sie nichts machen, ohne kontrolliert zu werden."

Guillaume Saive war als Streifenpolizist im Einsatz, als es zu "der Provokation" kam, von der die Jugendlichen sprechen. Ein Jugendlicher stürzte bei einer Verkehrskontrolle vom Motorrad und verletzte sich am Bein. "Wir müssen lernen, klarer zu kommunizieren", sagt Saive. "Die Menschen müssen wissen, dass solche Vorfälle untersucht werden." Wenn Saive seinen Arbeitsalltag beschreibt, erzählt er von Misstrauen und Gewalt. Er und seine Kollegen würden regelmäßig mit Feuerwerkskörpern beschossen. "Es hat sich herumgesprochen, dass Raketen praktischer sind als Molotow-Cocktails", sagt Saive. Die Raketen werden in die orangefarbenen Leitkegel gesteckt, mit denen eigentlich Baustellen gesichert werden, und dann vertikal durch die Luft geschossen. "Damit kann man genauso verletzt werden wie mit einem Gummigeschoss", sagt Saive. Und macht damit die Parallele auf zu den Waffen, welche die Polizei eingesetzt. "Wir brauchen die Gummigeschosse, um die Gewalt zu beenden", sagt Saive, "wenn wir zum Beispiel mit Steinen beworfen werden." In der Logik der Polizei haben Tränengasgranaten und Gummigeschosse denselben Zweck: Sie sollen eingesetzt werden, um "Massen zu kontrollieren, ohne starke Verletzungen herbeizuführen". Wenn also verhindert werden soll, dass Bürger und Polizisten in Nahkampfsituationen aufeinandertreffen. "Natürlich darf man nie auf den Kopf zielen", sagt Saive, aber es sei tatsächlich "sehr schwer zu zielen", wenn sich "Demonstranten sehr schnell bewegen".

Die Regierung spricht von "Krieg ums Territorium", die anderen reden von "Robocops"

Polizisten als Opfer und Polizisten als Täter - in Frankreichs aktuellen Debatten dominieren die Extreme. Die eine Seite, mit Innenminister Darmanin an ihrer Spitze, sieht in dem Angriff auf die Polizeiwache von Champigny einen "Krieg ums Territorium", in dem Polizisten von Menschen attackiert werden, die alles verachten, wofür die Republik steht. Die andere Seite, unter anderem durch den populären Aktivisten und Journalisten David Dufresne vertreten, sieht in den Polizisten den "Robocop", der nicht über die Einhaltung der Gesetze wacht, sondern die Staatsspitze schützt und repräsentiert.

Die Diskussionen um Polizeigewalt werden seit den Protesten der Gelbwesten deutlich breiter geführt als in den USA oder im Rest Europas. In anderen Ländern konzentriert sich die Kritik infolge der Black Lives Matter Bewegung meist darauf, dass zu wenig gegen rassistische Strukturen innerhalb der Polizei vorgegangen werde. Auch in Frankreich demonstrierten Anfang Juni Zehntausende junge Menschen gegen rassistische Polizeigewalt, doch anders als in anderen Ländern, sehen sich auch Teile der weißen Mittelschicht als Opfer der Polizei.

"Un pays qui se tient sage" - ein braves Land, heißt der Dokumentarfilm des Polizeikritikers Dufresne, der gerade in Frankreichs Kinos läuft. Er zeigt drastische Bilder, die Demonstranten und Journalisten mit Handykameras bei Polizeieinsätzen gemacht haben. Man sieht abgetrennte Hände, blutende Schädel, schwer verletzte Augen. Politologen, Philosophen und die Verletzten selbst kommentieren die Aufnahmen. Im Abspann sind die Namen all derer eingeblendet, die weder für Interviews noch für Kommentare zur Verfügung standen: Es ist die obere Hierarchieebene von Polizei und Innenministerium. In den Debatten um Gewalt und Polizei sprechen beide Seiten jeweils nur mit sich selbst.

© SZ vom 14.10.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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