„Small boats“, kleine Boote: So, mit dem englischen Begriff, nennen auch die Franzosen die Gummiboote, mit denen Schlepper seit ein paar Jahren Migranten von der nordfranzösischen Küste über den Ärmelkanal nach Großbritannien bringen – genauer: seit 2018, als die Zugänge zu den Schiffshäfen und zum Tunnel unter der Meerenge mit hohen Zäunen verbarrikadiert worden sind. „Small boats“ ist ein Euphemismus: Sie sind oft grotesk viel zu klein für die Zahl der Passagiere, die sie transportieren sollen. Der Begriff ist deshalb auch ein Synonym für ein zunehmend gefährliches, tödliches Phänomen geworden.
Nun hat es vor dem Cap Gris-Nez, einer Landspitze zwischen Calais und Boulogne-sur-Mer, wieder ein Unglück gegeben. Ein kleines Boot mit 65 Menschen, die meisten aus Eritrea, ist unter der Last auseinandergebrochen. An Bord waren zahlreiche Frauen und Kinder. Mindestens zwölf Menschen starben, zwei galten zunächst als vermisst, viele mussten ins Krankenhaus gebracht werden. Die See war nicht besonders rau, doch bei solchen Behelfsreisen führen auch kleine Wellen zu Katastrophen. Nach fünf Kilometern sank das Boot, nur acht Passagiere trugen Rettungswesten.
Die Behörden reagierten diesmal schnell
Es ist die größte Flüchtlingskatastrophe mit einem „Small boat“ im Ärmelkanal seit jener Novembernacht 2021, als 27 Migranten umkamen. Damals wurde den französischen Behörden vorgeworfen, sie hätten zu langsam reagiert, willentlich oder unwillentlich.
Diesmal waren sie schneller, mit Schiffen und mit Helikoptern, so konnten Dutzende Menschen gerettet werden. Frankreichs Innenminister Gérald Darmanin wies dann auch ausdrücklich auf die schnelle Rettungsoperation hin, als er nur Stunden nach dem Drama im Hafen von Boulogne-sur-Mer zu den Medien sprach. Darmanin lobte dabei seine Politik: „Was wir tun, funktioniert“, sagte er. 1700 Polizisten und Gendarmen würden nun die Küsten sichern. Und vor den Küsten kreuzen ständig zwei Schiffe, die im Notfall auch helfend eingreifen können. Die Anzahl ablegender Flüchtlingsboote sei so „um sechzig Prozent“ gesunken. Er hoffe, dass die neue britische Regierung mit der Europäischen Union bald einen neuen Migrationspakt aushandeln werde, damit der Migrationsdruck an dieser Stelle Europas zurückgehe.
Die Schlepper sind nun noch skrupelloser
Doch stimmen Darmanins Zahlen auch? Nachdem die Anzahl von Migranten auf dieser Route 2023 abgenommen hatte, ist sie 2024 wieder stark gestiegen, auf bisher etwa 22 000 – und damit ungefähr auf das Niveau von 2022, dem bisherigen Rekordjahr. Damals setzten 45 000 Menschen mit „Small boats“ über nach Dover. Was aber neu ist: Französische Sicherheitsleute ziehen Schiffe, die sie bei ihren Operationen gegen Schlepper finden, aus dem Verkehr. Und so beladen die Schleuser ihre verbliebenen Boote einfach noch dramatischer als früher. Im Durchschnitt reisen mehr Menschen auf den Gummibooten als zuvor: 2022 waren es 30 pro Boot, 2023 dann 43, nun 46. In diesem Jahr kam es schon vor, dass Menschen im Gedränge beim Boarden erstickt sind.
Französische NGOs, die sich für Migranten einsetzen, kritisieren Darmanins repressive Politik an den Küsten dafür, dass die Schlepper nun noch skrupelloser vorgehen und ihre Passagiere noch größeren Risiken aussetzen. Der Staatssender France 2 berichtet, die Reisen begännen mittlerweile oft schon auf Flüssen im Landesinneren oder immer weiter südlich am Atlantik, von wo die Überfahrt nach Großbritannien dann natürlich länger dauert und gefährlicher ist als im Ärmelkanal. Zu glauben, die Überfahrten könnten verhindert werden, sei „Augenwischerei“, sagt die Hilfsorganisation Utopia 56. Je schärfer das Instrumentarium der Repression, desto höher sei die Anzahl der Toten im Meer.
Als der Innenminister in Boulogne-sur-Mer ankam, so berichten es französische Reporter vor Ort, empfingen ihn Protestierende mit dem Chor „Darmanin assassin“ – „Darmanin Mörder“.