Frankreich:"Es reicht"

Die Zahl der antisemitischen Angriffe in Frankreich ist innerhalb eines Jahres um 74 Prozent gestiegen. Das treibt Tausende auf die Straße.

Von Nadia Pantel, Paris

French gendarmes conduct their investigation as they examine graves that were desecrated with swastikas in the Jewish cemetery in Quatzenheim

Dutzende Grabsteine auf dem jüdischen Friedhof in Quatzenheim bei Straßburg sind mit Hakenkreuzen beschmiert worden.

(Foto: Vincent Kessler/Reuters)

Beinahe ein Jahr ist es her, dass in Paris Tausende Menschen auf die Straße gingen, um Mireille Knoll zu gedenken. Die 85-jährige Jüdin war im Zweiten Weltkrieg nur knapp der Deportation durch die Nazis entgangen, im März 2018 wurde sie von zwei Nachbarn ermordet, die sich zunächst gegenseitig des Judenhasses bezichtigten. Noch läuft das Verfahren gegen die zwei Männer, das Motiv des Antisemitismus steht nicht mehr im Zentrum der Ermittlungen. Doch die Reaktion der Franzosen zeigte, wie entschlossen sich viele gegen Gewalt gegen Juden stellen wollten. Ein Jahr zuvor, im April 2017 war die jüdische Rentnerin Sarah Halimi von ihrem Nachbarn gequält und getötet worden. Der Täter war von antisemitischen Wahnvorstellungen besessen. Über den Mord wurde damals kaum berichtet. Die öffentliche Trauer um Knoll sollte ein Zeichen sein: Juden sind in Frankreich sicher.

Doch in diesem Februar muss das Land sich eingestehen, dass sich die Lage seit dem Mord an Knoll noch weiter verschlimmert hat. Erneut sehen sich die Franzosen gezwungen, mit Plakaten und Schweigeminuten daran zu erinnern, dass Antisemitismus keinen Platz hat. Diesmal sind die Fakten eindeutiger und erdrückender: Innerhalb eines Jahres ist die Zahl antisemitischer Angriffe im Land um 74 Prozent gestiegen. Allein in den vergangenen drei Wochen haben verschiedene Fälle vor Augen geführt, wie sich der Hass auf Juden ausgebreitet hat. So wurde am Samstag der Philosoph Alain Finkielkraut am Rande einer Demonstration der sogenannten Gelbwesten antisemitisch beschimpft, und am Dienstag wurde ein jüdischer Friedhof im Elsass geschändet, die Grabmäler wurden mit Hakenkreuzen beschmiert.

Unter den Zehntausenden, die am Dienstagabend in ganz Frankreich unter dem Motto "Es reicht" auf die Straße gingen, waren Vertreter aller Parteien, mit Ausnahme des rechtsradikalen Rassemblement National. Parteichefin Marine Le Pen versicherte stattdessen in einem offenen Brief den Philosophen Finkielkraut ihrer Unterstützung. Allein in Paris versammelten sich 20 000 Menschen auf der Place de la République, darunter auch Menschen in gelben Warnwesten, die zeigen wollten, dass die Bewegung der Gilets jaunes keinen Antisemitismus duldet. Premier Édouard Philippe nahm an der Kundgebung ebenso Teil wie die zwei ehemaligen Präsidenten François Hollande und Nicolas Sarkozy.

Einer der Männer, der gefilmt wurde, während er Finkielkraut beschimpfte, wurde inzwischen verhaftet. Es handelt sich laut France Info um einen 36-Jährigen aus Mulhouse, der seinen Vornamen von Benjamin zu Souleyman änderte und zum Islam konvertiert war. Er hatte im Dezember mit anderen Gelbwesten auf einem Kreisverkehr im elsässischen Kingersheim gegen die Politik von Präsident Emmanuel Macron protestiert. Er war dann aber von den anderen Demonstranten ausgeschlossen worden, da er versucht habe, sie von radikalen, islamistischen Konzepten zu überzeugen. Justizministerin Nicole Belloubet sagte über den Festgenommenen: "Es handelt sich um jemanden, der eindeutig radikalisiert ist."

Keinen Erfolg hatte am Dienstag der Versuch einiger Abgeordneter der Nationalversammlung, den Begriff Antizionismus mit dem Begriff Antisemitismus gleichsetzen zu lassen. Innenstaatssekretär Laurent Nunez sagte: "Ich bin nicht naiv, es entgeht mir nicht, dass sich hinter Antizionismus Antisemitismus verbergen kann." Um gegen Antisemitismus vorzugehen, reichten die bestehenden Gesetze jedoch aus.

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron wird am Mittwochabend beim jährlichen Empfang des Dachverbandes jüdischer Gemeinden (Crif) erwartet. Der Präsident des Crif, Francis Kalifat, sagte am Mittwoch, dass er von Macron "echte Maßnahmen" erwarte. Es brauche einen "spezifischen Plan, um gegen Antisemitismus zu kämpfen".

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