Wie lässt sich all das erklären? Fraglos spielt die Geschichte eine Rolle. Die Debatte über den Brexit weckt in Frankreich Erinnerungen an die späten Sechzigerjahre. Damals legte General Charles de Gaulle zweimal sein Veto gegen Großbritanniens Beitritt zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) ein.
Beim ersten Mal kollidierte diese Entscheidung mit der Mehrheitsmeinung, ehe die meisten Franzosen sie dann billigten. "Vor den beiden Vetos war der Großteil der Franzosen eher für den EWG-Eintritt Großbritanniens, nur die Kommunisten waren erbittert dagegen. Aber jedes Mal hat sich die Meinung gewendet, und de Gaulle gelang es, eine Mehrheit der Franzosen hinter seiner Entscheidung zu versammeln", sagt Agnès Tachin, Historikerin an der Universität von Cergy-Pontoise und Expertin für die britisch-französischen Beziehungen.
Im Gegensatz zu seinem Vorgänger überzeugte Präsident Georges Pompidou 1969 schon in den ersten Monaten nach seiner Wahl den großen Teil der gaullistischen Rechten davon, dass die Zeit reif sei, die EWG für vier Beitrittskandidaten zu öffnen - Großbritannien, Dänemark, Irland und Norwegen. Damit fand er beim Referendum vom 23. April 1972 die Zustimmung von 60 Prozent der Franzosen. Die Entscheidung markiert einen Wendepunkt.
Aus jener Zeit stammt sogar noch ein Argument der heutigen französischen Brexit-Gegner: "Ein Grund, warum Pompidou den Briten die Hand reichen wollte, war das immer größer werdende Gewicht, das Deutschland damals einnahm. Er sah die Aufnahme der Briten in die EWG als Ausgleich zur deutschen Macht", sagt Christian Lequesne, früher Direktor des Zentrums für Internationale Studien und Forschung an der Universität Institut d'Études Politiques in Paris.
FN-Chefin Le Pen argumentiert ähnlich wie zu seiner Zeit Charles de Gaulle
Bei den Brexit-Befürwortern hat die Vergangenheit das gleiche Gewicht. Daher ist Marine Le Pens Position interessant. Um ihre Haltung zu rechtfertigen, greift die FN-Chefin auf zwei politische Vorstellungen zurück, die wenig gemein haben mit den Ideen der klassischen extremen Rechten Frankreichs.
Die erste Vorstellung ist eher kommunistisch, denn sie besagt, der Brexit könnte den Anfang vom Ende einer EU markieren, "die brutal mit den Völker umgeht". Le Pen wirkt, wenn sie darüber redet, inspiriert von Traktaten der Kommunistische Partei zum Referendum von 1972, als diese aufrief, Nein zu stimmen im Namen "der Souveränität" und zum "gegenseitigen Nutzen der Völker".
Le Pens zweites Argument ist ein gaullistisches. Nachdem ihr verwehrt worden war, auf der anderen Seite des Ärmelkanals persönlich aufzutreten, um dort Wahlkampf für den Brexit zu machen, warf Le Pen den Briten vor, dass sie nicht mit demselben Eifer protestiert hätten, als US-Präsident Barack Obama Ende April in London vehement für den Verbleib Großbritanniens in der EU warb.
Der unausgesprochene Vorwurf war klar: Zwischen einem Amerikaner, der nicht denkt wie sie, und einem Europäer, mit dem sie einverstanden sind, ziehen die Briten immer den Amerikaner vor. De Gaulle hätte dasselbe sagen können: Dass er London einst als Trojanisches Pferd Amerikas sah, war der Hauptgrund für das zweifache Veto des Generals gegen den britischen Eintritt in die EWG.