Großbritannien und die EU:Sehr diskret: Frankreich möchte sich beim Brexit lieber nicht einmischen

Großbritannien und die EU: Should I stay or should I go? Diese Frage stellte 1982 die britische Punkband "The Clash". 2016 dürfen sich alle Briten angesprochen fühlen, ob sie gehen oder in der EU bleiben wollen.

Should I stay or should I go? Diese Frage stellte 1982 die britische Punkband "The Clash". 2016 dürfen sich alle Briten angesprochen fühlen, ob sie gehen oder in der EU bleiben wollen.

(Foto: Kirsty Wigglesworth/AP)
  • In Frankreich tritt der extrem rechte Front National (FN) aktiv für den Austritt Großbritanniens aus der EU ein.
  • Schon Charles de Gaulle, Vater des heutigen Frankreichs, war gegen die Briten in der damaligen Europäische Wirtschaftsgemeinschaft.
  • FN-Chefin Marine Le Pen argumentiert heute ähnlich wie de Gaulle damals.

Von Thomas Wieder (Le Monde)

Von einer Debatte zu sprechen, wäre übertrieben. Einen Monat vor dem Referendum über Großbritanniens Verbleib in der EU am 23. Juni hat der Großteil der Politiker Frankreichs sich entschieden, dazu wenig zu sagen.

Die Regierung rechtfertigt das so: "Wenn wir uns entschlossen haben, nicht in die Debatte einzugreifen, dann, weil es sich um eine souveräne Entscheidung des britischen Volkes handelt. Aber auch, weil wir glauben, einzugreifen hätte bestenfalls eine begrenzte Wirkung, schlechtesten Falls wäre es kontraproduktiv", sagt Europa-Staatssekretär Harlem Désir.

Präsident François Hollande ist auch sehr zurückhaltend: Seit dem französisch-britischen Gipfel am 3. März in Amiens hat er das Thema öffentlich nur ein einziges Mal berührt, sehr vage mit einem Satz über "die Gefahr der Zersplitterung Europas" am Rande einer Veranstaltung im Mai.

Der Front National kämpft für den Brexit

In der Opposition lässt sich dieselbe Diskretion beobachten, aber aus einem anderen Grund: Sechs Monate vor den Urwahlen, bei denen der Kandidat der Rechten für die Präsidentenwahl 2017 gekürt werden soll, versuchen die Parteiführer der Republikaner, vor allem zwei Dinge in den Vordergrund zu stellen: Was die Konservativen voneinander unterscheidet, und wo die Opposition sich der Regierung widersetzt. Der Brexit ist da kein ausbeutbares Thema: Es ist weder umstritten in der Rechten noch Reibungspunkt mit der Regierung.

Wenn Nicolas Sarkozy versichert, der Brexit wäre "eine Katastrophe" für die Briten und "für uns", oder Alain Juppé bekräftigt, dass "er für niemanden gut wäre", weil "die schon geschwächte Europäische Union noch mehr geschwächt würde", sagen sie nichts anderes als Hollande.

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In Kooperation mit Gazeta Wyborcza, The Guardian, La Stampa, Le Monde und El País.

Eine kürzlich veröffentlichte Umfrage des Instituts BVA zeigt, dass sich 58 Prozent der Franzosen wünschen, das Vereinigten Königreich möge in der EU bleiben. 40 Prozent sind gegenteiliger Ansicht. Bemerkenswert: In dieser Frage liegt die Kluft nicht zwischen Rechten und Linken - drei Viertel der Anhänger der Sozialisten und der Republikaner sind gegen den Brexit.

Die wahre Grenze verläuft zwischen der extremen Rechten und dem Rest. Von den großen Parteien ist der Front National die einzige, die aktiv für Großbritanniens EU-Austritt kämpft. Eine Haltung, die laut der Umfrage satte 77 Prozent der Anhänger des FN gut heißen.

Die Bedeutung der Geschichte für die Brexit-Debatte

Wie lässt sich all das erklären? Fraglos spielt die Geschichte eine Rolle. Die Debatte über den Brexit weckt in Frankreich Erinnerungen an die späten Sechzigerjahre. Damals legte General Charles de Gaulle zweimal sein Veto gegen Großbritanniens Beitritt zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) ein.

Beim ersten Mal kollidierte diese Entscheidung mit der Mehrheitsmeinung, ehe die meisten Franzosen sie dann billigten. "Vor den beiden Vetos war der Großteil der Franzosen eher für den EWG-Eintritt Großbritanniens, nur die Kommunisten waren erbittert dagegen. Aber jedes Mal hat sich die Meinung gewendet, und de Gaulle gelang es, eine Mehrheit der Franzosen hinter seiner Entscheidung zu versammeln", sagt Agnès Tachin, Historikerin an der Universität von Cergy-Pontoise und Expertin für die britisch-französischen Beziehungen.

Im Gegensatz zu seinem Vorgänger überzeugte Präsident Georges Pompidou 1969 schon in den ersten Monaten nach seiner Wahl den großen Teil der gaullistischen Rechten davon, dass die Zeit reif sei, die EWG für vier Beitrittskandidaten zu öffnen - Großbritannien, Dänemark, Irland und Norwegen. Damit fand er beim Referendum vom 23. April 1972 die Zustimmung von 60 Prozent der Franzosen. Die Entscheidung markiert einen Wendepunkt.

Aus jener Zeit stammt sogar noch ein Argument der heutigen französischen Brexit-Gegner: "Ein Grund, warum Pompidou den Briten die Hand reichen wollte, war das immer größer werdende Gewicht, das Deutschland damals einnahm. Er sah die Aufnahme der Briten in die EWG als Ausgleich zur deutschen Macht", sagt Christian Lequesne, früher Direktor des Zentrums für Internationale Studien und Forschung an der Universität Institut d'Études Politiques in Paris.

FN-Chefin Le Pen argumentiert ähnlich wie zu seiner Zeit Charles de Gaulle

Bei den Brexit-Befürwortern hat die Vergangenheit das gleiche Gewicht. Daher ist Marine Le Pens Position interessant. Um ihre Haltung zu rechtfertigen, greift die FN-Chefin auf zwei politische Vorstellungen zurück, die wenig gemein haben mit den Ideen der klassischen extremen Rechten Frankreichs.

Die erste Vorstellung ist eher kommunistisch, denn sie besagt, der Brexit könnte den Anfang vom Ende einer EU markieren, "die brutal mit den Völker umgeht". Le Pen wirkt, wenn sie darüber redet, inspiriert von Traktaten der Kommunistische Partei zum Referendum von 1972, als diese aufrief, Nein zu stimmen im Namen "der Souveränität" und zum "gegenseitigen Nutzen der Völker".

Le Pens zweites Argument ist ein gaullistisches. Nachdem ihr verwehrt worden war, auf der anderen Seite des Ärmelkanals persönlich aufzutreten, um dort Wahlkampf für den Brexit zu machen, warf Le Pen den Briten vor, dass sie nicht mit demselben Eifer protestiert hätten, als US-Präsident Barack Obama Ende April in London vehement für den Verbleib Großbritanniens in der EU warb.

Der unausgesprochene Vorwurf war klar: Zwischen einem Amerikaner, der nicht denkt wie sie, und einem Europäer, mit dem sie einverstanden sind, ziehen die Briten immer den Amerikaner vor. De Gaulle hätte dasselbe sagen können: Dass er London einst als Trojanisches Pferd Amerikas sah, war der Hauptgrund für das zweifache Veto des Generals gegen den britischen Eintritt in die EWG.

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