Süddeutsche Zeitung

Frankreich:Ein irgendwie neues Europa

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Derzeit überbieten sich konservative Oppositionspolitiker mit Vorschlägen, wie die EU angeblich besser funktionieren würde. Die Kritik gilt aber vor allem Präsident Hollande - und Angela Merkel.

Von Christian Wernicke, Paris

Die Gedanken klingen so kontinental wie kühn: Spitzenpolitiker von Frankreichs oppositionellen Republikaner übertreffen sich dieser Tage mit fundamentaler Kritik an der EU - und wetteifern mit radikalen Vorschlägen für ein irgendwie "neues Europa". Die Debatte unter den politischen Nachfahren von Charles de Gaulle, die als Präsidentschaftskandidaten ihrer Partei 2017 den Élyséepalast erobern wollen, erinnert an die sprichwörtliche Übung, zwar den Sack (in Brüssel) zu schlagen - aber gleich zwei Esel (in Paris und Berlin) zu meinen. Die Republikaner prügeln auf Präsident François Hollande ein, dessen mutmaßlich gescheiterte Politik das europäische Gewicht der Nation gegen null gebracht habe. Zugleich zielt Frankreichs bürgerliche Rechte auf das übermächtige Deutschland - und auf Angela Merkels Flüchtlingspolitik.

Mit markigen Sätzen meldet sich jetzt Ex-Präsident Nicolas Sarkozy zu Wort. Der republikanische Parteichef nimmt die britische "Brexit"-Volksabstimmung über einen EU-Austritt als Anlass für einen totalen Neuanfang: "Dies ist eine Möglichkeit, um Europa neu zu gründen", ließ er in Le Monde wissen, "Ich bedauere, dass François Hollande dazu keine Vorschläge gemacht hat." Am Mittwoch verabschiedeten Sarkozys Republikaner prompt ein "Orientierungspapier" mit der verwegenen Forderung, allen voran mit den Deutschen bereits 2017 eine "Akte zur Neugründung Europas auf Vertragsebene" auszuhandeln.

Nicolas Sarkozy weiß zwar sehr wohl, dass sämtliche EU-Regierungen auf Wunsch von Londons Premier David Cameron eine Art Schweigegelübde abgelegt haben: Ideen vom Kontinent sollen nicht die heikle Debatte auf der Insel komplizieren. Hinter den Kulissen grübeln Regierungsexperten aus Paris und Berlin sehr wohl über Reformen etwa zur Stärkung der Euro-Zone, samt eigenem Haushalt und Parlament. Auch das ahnt Sarkozy. Nur, ihm kommt die Stille seines Nachfolgers Hollande als Symptom für dessen angebliches General-Versagen recht: "Ist Frankreich von der diplomatischen Landkarte verschwunden?", fragt er, "welche Erniedrigung!"

Wie alle konservativen Präsidentschafts-Anwärter beklagt Sarkozy "Mangel an Führung" in Europa. Denn, so Sarkozy, "die unverzichtbare deutsch-französische Verständigung" versage, weil Hollande Frankreich daheim wie in der EU ruiniere. Dazu verweist der Ex-Präsident auf den mit der Türkei ausgehandelten Flüchtlings-Kompromiss: "Es hat mich schockiert zu sehen, dass Madame Merkel allein mit der türkischen Regierung verhandelt hat! Wo war da Monsieur Hollande?" Alain Juppé, Favorit für die republikanische Präsidentschaftskandidatur, sieht "die historische europäische Rolle" der Nation beschädigt: "Frankreich kommentiert, kritisiert, es folgt und nimmt hin."

Sarkozy beteuert, er wolle Merkel - als CDU-Chefin ja eigentlich eine parteipolitische Verbündete der Republikaner - nicht kritisieren. Um es dann zu tun: Es sei "ein Fehler" zu glauben, die Türkei könne Europas Flüchtlingsprobleme lösen. Indirekt weist Sarkozy Merkel sogar die Verantwortung für den Aufstieg der extremen Rechten in Europa zu: "Einige Aussagen der Kanzlerin erweckten den Eindruck, dass Deutschland das Problem (der Flüchtlinge) unterschätzte." Als Grundstein seines neuen Europas malt Sarkozy deshalb ein "Schengen 2" aus ("Schengen 1 ist tot!"), mit eigenem Präsidenten, gestrengen Kontrollen und allerorts gleich niedrigen Sozialtransfers für Asylbewerber. Eine Umverteilung von Flüchtlingen, wie sie Hollande und Merkel wollen, lehnt Sarkozy ab: "Ich bin klar gegen eine Politik von Quoten!"

Ein Kurs zur Eindämmung jedweder Zuwanderung ist unter Frankreichs Konservativen populär. Den Republikanern sitzt der Front National (FN) im Nacken. Bruno Le Maire, derzeit hinter Juppé und Sarkozy der Drittplatzierte unter den republikanischen Aspiranten, hat sogar eine FN-Idee entliehen: Er fordert eine Volksabstimmung über Europa. Das Votum seiner Landsleute solle aber nicht über einen "Francexit" entscheiden, sondern laut Le Maire "ein neues europäisches Projekt" propagieren. Das Risiko, dass sein EU-Referendum scheitert, nimmt er in Kauf.

Auch in der Wirtschaftspolitik, wo die Republikaner zuletzt meist ein "Modell Deutschland" priesen, entdeckt der germanophile Politiker Differenzen mit Berlin. "Die Euro-Zone darf nicht eine Zone des Erfolgs Deutschlands und des Misserfolgs der übrigen Mitglieder sein", warnt er.

Das klingt, als habe die Flüchtlingskrise unter den Republikanern ein generelles Unwohlsein über die deutsche Übermacht im real existierenden Europa geschürt. Selbst Alain Juppé, der ansonsten eher vorsichtig über die EU räsoniert, entfährt beim Grübeln über das deutsch-französische Verhältnis neulich dieser Satz: "Wir brauchen ein Frankreich, das - wenn nötig - 'Nein' zu sagen weiß."

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SZ vom 19.05.2016
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