Süddeutsche Zeitung

Frankreich:Die Große Debatte

Das Land streitet über die Polizeigewalt bei den Gelbwesten-Protesten - und zählt jedes Wochenende die Verletzten. Präsident Macron denkt derweil über ein Referendum der Franzosen am Tag der Europawahl nach.

Von Nadia Pantel, Paris

Schon seit Mitte November rebellieren die Gelbwesten samstags in den Straßen Frankreichs, längst ist der Tag danach zum Tag der Inventur geworden. Wie viele Demonstranten waren es diesmal? Wie viele Polizisten wurden verletzt, wie viele Protestierende? Und hat vielleicht irgendein Politiker einen brauchbaren Vorschlag gemacht, wie das Land aus der Krise herausfinden kann?

Stand des zwölften Inventursonntags: Laut Innenministerium haben am Samstag landesweit 58 600 Gilets jaunes protestiert. Am Samstag davor waren es noch 69 000 gewesen. Zum zentralen Thema der Demonstranten sind mittlerweile die Verletzungen durch Gummigeschosse der Polizei geworden. In Paris, Toulouse, Bordeaux und anderen Großstädten malten sich Menschen blutrote Flecken auf ihre Westen und trugen Augenklappen, um auf die Opfer der LBD 40 aufmerksam zu machen. Die Polizei setzt diese "nicht-tödliche Waffe" gegen Protestierende ein, einige trugen schwere Verletzungen davon. Auch Jérôme Rodrigues, einer der prominentesten Wortführer der Bewegung, wurde vor einer Woche in Paris verletzt. Er gibt an, von einem Gummigeschoss der Polizei am Auge getroffen worden zu sein. Die Polizei untersucht den Vorfall.

Auch an diesem Samstag wurde wieder ein bekannter Anführer der Gelbwesten verletzt. Thierry Paul Valette traf während einer Kundgebung in Paris eine Eisenstange am Kopf. Allerdings war die Eisenstange aus den Reihen der Demonstrierenden geworfen worden. Valette, 42, hatte am Freitag verkündet, mit einer Liste von Gelbwesten bei der Europawahl im Mai antreten zu wollen. Vier solcher Listen existieren inzwischen, doch bislang versammelt keine die 79 Namen, die nötig sind, um bei der Wahl anzutreten. Die Krankenpflegerin Ingrid Levavasseur war die Erste, die im Januar für die Europawahl eine Gelbwesten-Kandidatur ausrief. Dafür wurde sie in den Facebook-Foren der Bewegung heftig angefeindet, mit dem Vorwurf, sie instrumentalisiere den Protest. Alle vier Listen setzen sich für die zentralen Themen der Gelbwesten ein: mehr soziale Gerechtigkeit, mehr direkte Demokratie, weniger Steuern.

Möglich, dass die Franzosen am Tag der Europawahl auch über Gelbwesten-Themen abstimmen

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron wird durch die anhaltenden Proteste deutlich geschwächt. Er musste bereits verschiedene Reformprojekte verschieben, darunter die Verfassungsreform und die Rentenreform. Seine finanziellen Zugeständnisse an die Gelbwesten summieren sich auf jährlich zehn Milliarden Euro. Durch diese Intervention dürfte die Neuverschuldung Frankreichs, anders als von Macron ursprünglich angekündigt, über die von der EU festgelegte Drei-Prozent-Grenze steigen. Der neueste Versuch des Präsidenten, die Krise zu beenden, könnte nun ein Referendum sein. Das Journal du Dimanche meldete am Sonntag, Macron denke konkret darüber nach, ein Referendum auf den Tag der Europawahl am 26. Mai zu legen. Ein Vertrauter des Staatschefs wurde mit den Worten zitiert, man werde "sehr schnell eine Entscheidung fällen, innerhalb einer Woche".

Das Referendum könnte somit möglicherweise die Umsetzung von Ideen aus dem sogenannten "grand débat" sein, der derzeit in ganz Frankreich stattfindet. Die Dialog-Initiative läuft noch bis Mitte März. Macron hatte die Franzosen zu Beginn des "grand débat" in einem Brief dazu aufgefordert, drei Monate lang über alle grundsätzlichen Themen des gesellschaftlichen Zusammenlebens zu diskutieren. Auf der Website des "Grand débat" wurden seitdem Hunderte Veranstaltungen angemeldet. Bürger finden sich zusammen, um über Sozialabgaben und demokratische Verfahren zu sprechen, es wurden aber auch Treffen angemeldet, die den Wunsch nach Macrons Rücktritt zum Thema haben.

In der kommenden Woche werden die Gewerkschaften versuchen, die verbliebene Energie der Gelbwesten-Proteste für sich zu nutzen. Frankreichs zweitgrößte Gewerkschaft, die CGT, ruft am Dienstag zum Generalstreik auf und wird dabei von führenden Köpfen der Gilets jaunes unterstützt.

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SZ vom 04.02.2019
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