Fast anderthalb Jahre hat sich Annalena Baerbock Zeit gelassen, bis sie am Mittwoch zum ersten Mal an einer französischen Kabinettssitzung teilnahm. Nach dem Aachener Freundschaftsvertrag von 2019 soll eigentlich vier Mal im Jahr ein deutsches oder französisches Regierungsmitglied einer Kabinettssitzung des Nachbarlandes beiwohnen, diesen Rhythmus haben beide Länder bislang nicht eingehalten. In Paris war man zuletzt besorgt gewesen, dass Berlin vor lauter Zeitenwende die deutsch-französische Achse vernachlässigen könnte.
Nun also saß die deutsche Außenministerin endlich im Conseil des ministres im Élysée-Palast. "Frankreich ist nicht nur unser Partner, nicht nur unser Nachbar, Frankreich ist unsere beste Freundin", sagte sie bei der anschließenden Pressekonferenz mit ihrer französischen Amtskollegin Catherine Colonna. Die beiden duzten sich demonstrativ, keine Kollegin sehe sie so oft wie Colonna, sagte Baerbock. Bei der Kabinettssitzung habe sie selbst bei innenpolitischen Themen viele Parallelen zu Berlin erkannt. "Wir könnten fast die Rollen tauschen, und keiner würde es bemerken."
Schon am Dienstagabend hatte sich Baerbock mit Präsident Emmanuel Macron getroffen, bei dem Gespräch ging es Beratern zufolge unter anderem um Europa und den Krieg in der Ukraine. Dass der französische Präsident sich Zeit für ausländische Minister nimmt, ist ungewöhnlich. Vermutlich ein Versuch, die komplizierten Berliner Koalitionsverhältnisse zu durchschauen.
Auch Frankreichs Präsident Emmanuel Macron nahm sich Zeit für die deutsche Außenministerin. Das ist ungewöhnlich.
(Foto: Thomas Trutschel/Imago)Die aktuelle deutsch-französische Charmeoffensive folgt einer heftigen Verstimmung im vergangenen Herbst. Der für Oktober geplante deutsch-französische Ministerrat wurde kurzfristig abgesagt - weil in wichtigen Streitfragen kein Kompromiss zu finden war und es einige deutsche Minister, darunter Baerbock, vorzogen, in den Urlaub zu fahren. Im Januar wurde der Termin dann zum 60. Jahrestag der Unterzeichnung des deutsch-französischen Élysée-Vertrages nachgeholt, mit viel Pomp, aber wenig konkreten Ergebnissen.
Der Krieg in der Ukraine hat Streitpunkte offengelegt, die schon lange zwischen Deutschland und Frankreich schwelen - in der Verteidigungs- und Energiepolitik, bei der Vorstellung von Europa. Mit seiner Aussage, Europa dürfe im China-Taiwan-Konflikt nicht zum "Vasallen der USA" werden, irritierte Emmanuel Macron erst kürzlich wieder in Berlin. Es gebe keine unterschiedliche China-Politik von Deutschland und Frankreich, sagte Baerbock am Mittwoch in Paris. Man habe vielleicht ein paar Jahre gebraucht, um sich zusammenzurütteln, aber spätestens seit dem russischen Angriffskrieg stehe man eng zusammen.
Trotzdem: Während Macron von der "strategischen Autonomie" der EU träumt, ging Kanzler Scholz erst in dieser Woche noch einmal auf Distanz. In seiner Rede vor dem EU-Parlament sagte er: "Die Vereinigten Staaten bleiben Europas wichtigster Verbündeter." Wer nostalgisch dem Traum europäischer Weltmacht nachhänge, stecke in der Vergangenheit.
Seit Russlands Angriff auf die Ukraine streiten Frankreich und Deutschland auch wieder intensiv um Atomkraft. Da muss dann auch die deutsche Außenministerin zugeben, dass "nach wie vor jedes Land seine eigenen souveränen Entscheidungen trifft". Deutschland hat seine letzten Kernkraftwerke gerade abgeschaltet, Frankreich will neue bauen. In Brüssel setzten sich die Franzosen dafür ein, aus Atomkraft gewonnenen Wasserstoff als grünen Wasserstoff einzustufen, und haben eine Allianz mit mehreren atomkraftfreundlichen EU-Staaten gegründet. Man müsse sich vom Bild des deutsch-französischen Paars verabschieden, sagte kürzlich nüchtern die französische Europa-Staatssekretärin Laurence Boone. Europa komme leichter voran, wenn Deutschland und Frankreich sich verstünden. Wenn das nicht der Fall sei, finde Frankreich aber auch andere Allianzen.
Gesprächsbedarf gibt es wohl noch genug. Im Sommer wird Macron gleich zwei Mal in Deutschland erwartet, Anfang Juni zu einem Abendessen im Wahlkreis von Olaf Scholz in Potsdam, Anfang Juli will der französische Präsident zu einem offiziellen Staatsbesuch kommen, das gab es vor 23 Jahren zum letzten Mal. Annalena Baerbock kündigte am Mittwoch an, dass auch sie sich im Sommer mit ihrer Amtskollegin Colonna in einer deutsch-französischen Grenzregion treffen wolle.