Süddeutsche Zeitung

Deutsch-französische Beziehungen:Blinde Flecken jenseits der Versöhnung

Claus Leggewie zeigt die verschiedenen Sichtweisen in Frankreich und Deutschland auf die koloniale Vergangenheit, die deutsche Besatzung und den Umgang mit der gemeinsamen Geschichte. Vor allem die Einbeziehung Algeriens weitet den Blick.

Von Clemens Klünemann

Obwohl die deutsch-französischen Beziehungen wie kaum ein anderes transnationales Verhältnis analysiert, kommentiert und ausgeleuchtet wurden, sind einige blinde Flecken bei der gegenseitigen Wahrnehmung geblieben; dabei geht es um Aspekte, welche im Narrativ einer überwundenen "Erbfeindschaft" und eines versöhnlichen Miteinanders auf Augenhöhe nicht vorkommen - weil sie schlichtweg vergessen wurden oder weil ihr Vergessen Teil einer erinnerungspolitischen Strategie ist, die man am besten als verordnete Amnesie bezeichnet.

In seinem Buch "Reparationen" schildert der Politikwissenschaftler Claus Leggewie mehrere Beispiele solcher Erinnerungspolitik, von denen der Fall Barbie sicherlich das eklatanteste ist: 1983 hat Helmut Kohl eine Auslieferung Klaus Barbies, des grausamen Gestapo-Chefs in Lyon während der deutschen Besatzung, von seinem Fluchtort Bolivien nach Deutschland offenbar persönlich verhindert; der deutsche Bundeskanzler wollte keine weiteren NS-Prozesse, da er die Beschäftigung mit dieser Vergangenheit als Belastung für das ihm am Herzen liegende gegenwärtige deutsch-französische Verhältnis betrachtete. Dass der als "Schlächter von Lyon" bezeichnete Barbie dann nach Frankreich ausgeliefert und ihm dort ein aufsehenerregender Prozess gemacht wurde, hatte Kohl offenbar nicht auf seiner Rechnung.

Der in Deutschland verhinderte und in Frankreich geführte Barbie-Prozess ist für Leggewie indes nicht nur Beispiel eines - in diesem Fall gescheiterten - Versuchs, Geschichtsbewusstsein und Erinnerung politisch zu steuern. Er zeigt darüber hinaus, dass es einer dritten Dimension bedarf, um die Tiefenstruktur der Beziehung zwischen beiden Ländern zu begreifen - und zu dieser Tiefenstruktur gehören eben nicht nur die Kriegsverbrechen der deutschen Besatzer Frankreichs, sondern auch der kolonialistische Hintergrund des besetzten Landes: "Die deutsch-französische Achse wurde zu einem Algerien einbeziehenden Dreieck durch die Taktik von Klaus Barbies Verteidiger Jacques Vergès", schreibt Leggewie und zitiert dessen Worte aus einem Interview am Rande des Prozesses: "Barbie wird jetzt rückwirkend auf Grund eines Gesetzes angeklagt, das analog auch auf französische Verbrechen in Indochina und Algerien anzuwenden wäre, aber eben nicht angewendet wird."

Zwei Sichtweisen auf den 8. Mai 1945

Mittels dieser dritten Dimension gelingt dem Autor auf beeindruckende Weise zweierlei: Zum einen nämlich, den Subtext der deutsch-französischen Geschichte offenzulegen; zu diesem gehört der 8. Mai 1945, der für die Franzosen (und inzwischen auch für die Deutschen) als Tag der Befreiung gilt, für Algerier indes der Jahrestag des Massakers von Sétif an etwa 30 000 Menschen ist, die an eben diesem Tag von der französischen Kolonialmacht getötet wurden, weil sie nichts anderes forderten als das Ende der Besetzung ihres Landes. Zum anderen zeichnet Claus Leggewie die verheerenden Spuren des Kolonialismus nach, die bis in die Gegenwart führen - und keineswegs lediglich in die französische!

Er zieht Linien von der durch die Kolonisation geprägten Rolle der Frau und von der in Algerien herrschenden Vorstellung des Geschlechterverhältnisses zur Kölner Silvesternacht, und er zeigt "die ambivalente Symbolik der Verschleierung als Zeichen männlicher Dominanz und als Zeichen weiblichen Selbstbewusstseins" sowie die in Frankreich und Deutschland durchaus unterschiedlichen Reaktionen auf dieses Symbol.

Es ist müßig zu betonen, dass Claus Leggewie über den Verdacht erhaben ist, die Taten und vor allem die Untaten des einen Landes gegen die eines anderen aufzurechnen. Stattdessen gelingt es ihm, einzelne Ereignisse zu kontextualisieren; beharrlich bringt der Autor seine Leserinnen und Leser dazu, sich nicht mit einer unhinterfragten und oftmals durch nationale Sichtweisen geprägten Wahrnehmung zufriedenzugeben. Am eindrücklichsten gelingt ihm dies in dem Kapitel über das "Tocqueville-Paradox", womit Leggewie die Mischung aus Arabophilie und kolonialer Landnahme meint.

Er hätte es auch das Gambetta- oder Ferry-Paradox nennen können, denn im Gegensatz zum deutschen Kaiserreich, wo die Protagonisten der Kolonialpolitik aus den nationalistisch-völkischen Kreisen kamen, stützte sich der Kolonialismus in Frankreich auf liberale und linke Republikaner, die ernsthaft von Frankreichs Mission träumten, die Segnungen von Demokratie, Menschenrechten und technologischem Fortschritt auch noch in den am weitesten von Paris liegenden Ort der Erde zu bringen.

Es war allerdings nicht nur die Unmöglichkeit, ein westeuropäisches Gesellschaftsmodell einfach mal so in ein außereuropäisches Land exportieren zu können - dabei stehenzubleiben würde übrigens jenen das Wort reden, die behaupten, dass Afrikaner ja "noch nicht reif" für die Demokratie seien.

Leggewie macht auf ein anderes Problem aufmerksam, in dem er auch die Wurzel eines aktuellen Übels erkennt: Dass 1870 ganz in der Tradition von 1789 mit dem Crémieux-Dekret 35000 algerische Juden zu französischen Bürgern erklärt wurden, erregte keinesfalls den Zorn der arabischen Bevölkerung, sondern jenen vieler weißen Siedler, welche "in der Figur des Juden das Symbol einer bedrohlichen Modernisierung und eines vaterlandslosen Kosmopolitismus" sahen - dafür habe man schließlich die Kolonie nicht erobert. Aus dieser Haltung erwuchs der sogenannte "integrale Nationalismus" eines Charles Maurras, der Antisemitismus der Dreyfus-Gegner und schließlich der Rassismus der Vichy-Anhänger.

Nach der Gründung des Staates Israel traf die antizionistische Propaganda der algerischen Befreiungsbewegung auf die offenen Ohren jener in den nationalistischen Kreisen Frankreichs, denen jedes antisemitische Vorurteil recht war. Es ist dieses Amalgam, das den Stimmenanteil für Le Pens Partei Rassemblement national in den Kreisen der ehemaligen Algerien-Siedler erklärt, aber auch das Paradox eines gleichzeitig auf der antisemitischen und den Islam ablehnenden Klaviatur spielenden Präsidentschaftskandidaten Éric Zemmour.

Von "Ben Wisch" über Mode zur Malerei

Claus Leggewies Buch zeichnet Traditionslinien von einem der drei Länder in eines der beiden anderen - oder in beide. Dabei kontextualisiert er die Spielarten des Antisemitismus ebenso wie die Mode des durch Eugène Delacroix' Malerei ausgelösten Orientalismus, den Konflikt zwischen Sartre und Camus um die Dekolonisierung ebenso wie die Geheimdiplomatie des deutschen Politikers Hans-Jürgen Wischnewski ("Ben Wisch") oder die Bedeutung des Rap und des Raï, mit dem sich algerische Jugendliche eine musikalisch-rebellische Stimme gaben.

Leggewie durchkreuzt die gemeinsame Geschichte der drei Länder, von deren Gemeinsamkeiten mit Blick auf Algerien in Deutschland wenig bekannt ist. Der Titel seines Buches ist offensichtlich ein verborgenes Programm: Denn während man in Deutschland bei Reparationen an Versailles und die Folgen denkt, schwingt im Französischen immer auch der Gedanke der Wiederherstellung eines Ungleichgewichts mit, welche im Sinne des Ökonomen Keynes wechselseitig heilende Wirkungen haben kann.

Claus Leggewies Buch ist somit auch Ausdruck einer Hoffnung - darauf nämlich, dass die Kenntnis der blinden Flecken im Dreieck zwischen Algerien, Frankreich und Deutschland das gegenseitige Verständnis von drei sehr unterschiedlichen Ländern fördert.

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