Süddeutsche Zeitung

Demonstration in Paris:Franzosen marschieren "gegen das teure Leben"

Die Linke ruft zur Demonstration auf, Zehntausende Protestierende sind es am Ende. Ist das der Auftakt zu einem heißen Herbst?

Von Kathrin Müller-Lancé, Paris

Wenn es nach Jean-Luc Mélenchon, dem Gründer der radikal linken La France Insoumise (LFI) ginge, sollte dieser Tag in die Geschichtsbücher eingehen. Im Vorfeld verglich Mélenchon den "Marsch gegen das teure Leben", zu dem das linke Bündnis Nupes am Wochenende aufrief, mit dem Zug der Pariser Marktfrauen nach Versailles im Oktober 1789. "Versailles schlemmt, Paris hungert", war damals der Slogan. Mélenchons Referenz kam nicht bei allen gut an. Der Politiker sah sich gezwungen zu betonen, dass der Zug der Marktfrauen ohne abgeschnittene Köpfe abgelaufen sei.

An diesem Sonntag in Paris steht auf den Plakaten der Demonstrierenden "Die Stunde der Umverteilung hat geschlagen" und "Wir wollen in Rente, bevor wir sterben". Die Veranstalter zählen 140 000 Menschen, die Polizei zählt 30 000. Zwischen der Place de la Nation und der Place de la Bastille protestieren die Teilnehmenden gegen vieles: die steigenden Preise, zu niedrige Gehälter, Macrons geplante Rentenreform, den Klimawandel. Der "Marsch gegen das teure Leben" gilt auch als Stimmungstest: Wird der Herbst so heiß, wie manche vermuten?

Energiesparen, Haushaltsgesetz, Rentenreform - die politische Lage ist angespannt

Seit Wochen ist die politische Lage in Frankreich angespannt. Wegen des Ukraine-Krieges und des Ausfalls etlicher Atomreaktoren ruft die Regierung die Bürgerinnen und Bürger zum Energiesparen auf. Um auch ohne absolute Mehrheit im Parlament ihr Haushaltsgesetz zu beschließen, wird Macron vermutlich bald den umstrittenen Paragrafen 49.3 ziehen. Auch die unbeliebte Rentenreform will er gegen alle Widerstände in diesem Winter durchsetzen. Und dann sind da noch die Streiks in den Raffinerien, die nach wie vor Benzinmangel verursachen.

Die Idee für den Marsch kommt vom Altlinken Mélenchon, schon seit dem Sommer rührt er die Werbetrommel dafür. Zuletzt hatten auch namhafte französische Intellektuelle wie die Neu-Nobelpreisträgerin Annie Ernaux und der Schriftsteller Didier Eribon zur Teilnahme aufgerufen. "Emmanuel Macron nutzt die Inflation, um das Wohlstandsgefälle zu vergrößern und die Kapitalerträge anzukurbeln, auf Kosten des Rests", schrieben sie in einem offenen Brief im Journal du Dimanche. Ernaux zeigte sich auch am Sonntag an Mélenchons Seite.

Für das "teure Leben" machen die Demonstrierenden vor allem den Staat verantwortlich - und das, obwohl man der französischen Regierung nicht vorwerfen kann, dass sie angesichts der Energiekrise nichts tut. Bereits seit dem vergangenen Jahr deckelt Frankreich die Preise für Gas und Strom. Bis zum Ende des Jahres darf die Stromrechnung um maximal vier Prozent steigen, die Preise für Gas sind auf dem Niveau von Oktober 2021 eingefroren. Von Februar 2023 an dürfen die Gas- und Stromrechnungen bis maximal 15 Prozent steigen. Auch einen Tankrabatt gibt es. Die üppigen Hilfen sorgen dafür, dass die Inflationsrate in Frankreich mit etwa sechs Prozent eine der niedrigsten in ganz Europa ist. Nur zum Vergleich: In Deutschland lag sie im September bei zehn Prozent.

Die Demonstrierenden in Paris sind trotzdem unzufrieden. "Wenn man nur eine kleine Rente hat, können auch sechs Prozent Inflation schwierig sein", sagt der 64-jährige Michel. Er ist mit einer Gruppe aus den Vogesen angereist, die Veranstalter haben mehrere Dutzend Busse eingerichtet, um auch Menschen aus anderen französischen Regionen nach Paris zu bringen. "Nur weil es in anderen Ländern noch schlechter aussieht, heißt es nicht, dass es hier gut ist", sagt der Doktorand Nicolas aus Straßburg. Er hat für die Demo seine gelbe Warnweste wieder aus dem Schrank gezogen - "ich hoffe auf einen sozialen Herbst".

Die aktuellen Proteste wecken Erinnerungen an die Gelbwesten-Bewegung

Tatsächlich wecken die aktuellen Proteste bei vielen Erinnerungen an die Gilets Jaunes. Im Herbst 2018 entzündete sich die Bewegung an den Plänen der Regierung, den Benzinpreis zugunsten des Klimaschutzes zu erhöhen.

Die Protestforscherin Magali della Sudda möchte sich noch nicht festlegen, ob da gerade die Gelbwesten 2.0 entstehen. "Es ist oft so, dass soziale Bewegungen erst abnehmen und dann im Kontext neuer Themen wiederkommen", sagt die Politikwissenschaftlerin von der Hochschule Sciences Po Bordeaux. "Das ist dann nicht mehr die ursprüngliche Bewegung, aber auch keine ganz andere." Die Gelbwesten seien auch deshalb so besonders gewesen, weil sie es geschafft hätten, Menschen aus verschiedenen Branchen zusammenzubringen. "Ob das wieder gelingt, muss man sehen."

An diesem Sonntag sieht man die gelben Warnwesten in Paris vereinzelt. "Man hatte den Eindruck, dass nach den Ausschreitungen und Repressionen viele Angst hatten, auf die Straße zu gehen", sagt einer der Demonstranten, der ein Schild mit der Aufschrift "Null Öll, null Atomkraft" gebastelt hat. "Vielleicht ändert sich das gerade wieder."

Der Marsch ist aber nicht nur ein Test für das Empörungslevel in der französischen Bevölkerung, sondern auch für das linke Bündnis Nupes. Dessen Mitglieder waren in den vergangenen Wochen eher durch internes Durcheinander als durch effiziente Oppositionspolitik aufgefallen. Bei den Grünen sorgten Missbrauchsvorwürfe gegen den mittlerweile Ex-Parteichef Julien Bayou für Zwist, bei der France Insoumise das Geständnis des mittlerweile Ex-Parteikoordinators Adrien Quatennens, seine Frau geohrfeigt zu haben. Parteigründer Mélenchon verteidigte seinen Schützling und bekam dafür viel Kritik, unter anderem aus den eigenen Reihen.

Je mehr Teilnehmer an Protesten, desto stärker die Linke im Parlament

Auch vor der Demonstration in Paris gab es Unstimmigkeiten im linken Lager, die kommunistische Partei sagte ihre Teilnahme erst spät zu, viele Gewerkschaften sagten ganz ab. Statt Parallelveranstaltungen zu organisieren, solle man lieber die Gewerkschaften unterstützen, erklärte CGT-Generalsekretär Philippe Martinez.

Das linke Bündnis Nupes setzt trotzdem große Hoffnungen auf den Tag: Je mehr Leute teilnehmen, so die Rechnung, desto gestärkter kann die Linke in die Auseinandersetzung mit den Regierungsparteien im Parlament gehen - zum Beispiel, um den Haushaltsentwurf oder Macrons Rentenreform zu blockieren. "Macron ist am Ende seines Laufs", sagte Mélenchon bei seinem Auftritt auf der Demo und versprach eine "neue Volksfront".

Auch wenn die Stimmung am Sonntag weitestgehend friedlich blieb, stehen Macron und seiner Regierung wohl noch weitere ungemütliche Tage bevor. Für kommenden Dienstag haben mehrere französische Gewerkschaften zum branchenübergreifenden Streik aufgerufen. Gewerkschafter der SNCF und der Pariser Verkehrsbetriebe haben ihre Teilnahme schon angekündigt.

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