Frankreich:Das Gift des Antisemitismus

Nach Angaben von Innenminister Christoph Castaner ist die Zahl judenfeindlicher Angriffe in Frankreich stark angestiegen. Beobachter stellen massive Vorurteile gegen Juden in allen Milieus fest.

Von Nadia Pantel, Paris

Simone Veil gehörte zu den beliebtesten Politikerinnen Frankreichs, im Sommer 2017 wurden ihre sterblichen Überreste ins Panthéon überführt, um zu würdigen, wie viel die Republik ihr zu verdanken hat. Nun wurde das Andenken an Veil in genau dieser Republik beschmutzt. Porträts von Veil, die ein Straßenkünstler an einen Briefkasten im Süden von Paris geklebt hatte, wurden am Sonntag mit Hakenkreuzen überdeckt. Die Jüdin Veil hatte den Holocaust überlebt. Bereits einen Tag zuvor entdeckte der Betreiber einer Filiale der Imbisskette "Bagelstein" ein gelbes Grafitto an seinem Schaufenster: "Juden". Ein offener Verweis auf die Berliner Reichspogromnacht von 1938 mitten im Zentrum von Paris. Und in Sainte-Geneviève-des-Bois, nicht weit von Paris, wurden zwei Bäume gefällt, die an den Mord an Ilan Halimi erinnerte. Halimi war 2006 entführt und zu Tode gefoltert worden. Der Grund für den Hass der Täter? Halimi war Jude.

Unter den Gelbwesten verbreiten Verschwörungstheoretiker rechtsextreme Propaganda

Diese Taten allein würden ausreichen, um Alarm zu schlagen. Doch das Anwachsen des Antisemitismus in Frankreich ist keine gefühlte Wahrheit nach einem schrecklichen Wochenende, es lässt sich in Zahlen fassen. 541 Mal wurden 2018 antisemitische Übergriffe angezeigt, ein Anstieg um 74 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Frankreichs Innenminister Christophe Castaner stand neben den Resten von Halimis Bäumen, als er am Montag diese Zahlen verkündete. "Der Antisemitismus breitet sich aus wie ein Gift", sagte Castaner.

Der Beauftragte für den Kampf gegen Rassismus, Antisemitismus und Homophobie, Frédéric Potiert sagte der Zeitung Le Monde : "Seit Januar 2018 breitet sich ein angsteinflößendes Klima aus. Über den islamistischen Antisemitismus hinaus erleben wir das Erstarken von identitären Rechtsextremen, die nicht mehr davor zurückschrecken zur Tat zu schreiten."

Beobachter stellen massive Vorurteile gegen Juden in allen Milieus fest: Bei der katholischen Bourgeoisie, bei den Kindern muslimischer Einwanderer, bei antikapitalistischen Linken, bei Anhängern der rechtsextremen Politikerin Marine Le Pen, die laut Umfragen inzwischen als wichtigste Oppositionsführerin des Landes gilt. Doch 2018 kam ein neuer Faktor hinzu. Im Fahrwasser des Aufstands der sogenannten Gelbwesten verbreiten rechte Verschwörungstheoretiker ihre Propaganda. Auf den Demonstrationen der Gelbwesten kann man beides beobachten: Menschen, die ihren Hass auf Präsident Emmanuel Macron mit antisemitischem Gedankengut verknüpfen und Macron vorwerfen, Teil eines jüdischen Komplotts zu sein. Und Menschen, die versuchen zu verhindern, dass solcher Unsinn verbreitet wird. Marie Peltier, Spezialistin für Verschwörungstheorien stellt zu den antisemitischen Macron-Parolen fest: "Während der Präsidentschaftskampagne wurde das nur im Netz verbreitet, jetzt sehen wir es auch auf der Straße." Das sei ein Zeichen, dass man "die Alarmglocke läuten" müsse.

Am Montag veröffentlichte das Meinungsforschungsinstitut Ifop eine Umfrage über das Verhältnis der Gelbwesten zu Verschwörungstheorien. 44 Prozent der Befragten, die sich als Gelbwesten identifizieren, sagten, sie seien mit der Aussage einverstanden, dass eine jüdische Weltverschwörung existiere. Unter Franzosen, die sich nicht als Gilets jaunes identifizieren, stimmten 22 Prozent dieser Aussage zu. Im Rahmen der Umfrage gaben 59 Prozent der selbsterklärten Gelbwesten an, dass sie sich in erster Linie über Soziale Netzwerke wie Facebook informieren würden. Viele Facebook-Gruppen der Gelbwesten-Bewegung sind laut Le Monde zu "einer Spielwiese rechtsextremer Verschwörungstheoretiker" geworden.

Der Dachverband jüdischer Organisationen in Frankreich, Crif, erinnerte am Montag daran, dass die vom Innenministerium veröffentlichte Zahl antisemitischer Übergriffe nur einen Teil des Problems erfasst. Juden seien im Alltag deutlich häufiger Aggressionen ausgesetzt, als man aus den erstatteten Anzeigen ablesen könne. Der Vorsitzende des Cris, Francis Kalifat sagte: "Der Antisemitismus ist ein Signal für die Schwächung der Demokratie in unserem Land." Die Rabbinerin Delphine Horvilleur von der Bewegung liberaler Juden in Frankreich sagte dem Parisien, dass sie angesichts des wachsenden Antisemitismus von "einer nationalen Reaktion träume": "Jede Woche gehen die Menschen in Frankreich zur Zeit auf die Straße. Ich träume davon, dass sie am kommenden Samstag Plakate tragen, auf denen 'nicht in meinem Namen' steht." Horvilleur sagte, dass sie weder von Macron noch von Premierminister Édouard Philippe eine neue Politik fordere. Der Kampf gegen den Antisemitismus sei weder ein Kampf der Regierung noch "ein Kampf der Juden". Es sei ein Kampf, den die gesamte Bevölkerung führen müsse.

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