Drei Tage lang schwieg Emmanuel Macron, höchstens ließ er mal einige Schlagwörter verbreiten über seine Berater im Élysée. Nun hat sich Frankreichs Präsident zum ersten Mal über den Ausgang der vorgezogenen Parlamentswahlen geäußert – und zwar in einem offenen Brief in der Regionalpresse an die Französinnen und Franzosen, der am Mittwochabend publik wurde, als Macron schon in Washington eingetroffen war für den Gipfel der Nato. Darin stellt er Bedingungen für die Berufung eines neuen Premierministers.
Niemand habe diese Wahlen gewonnen, schreibt er, keiner der drei großen Blöcke verfüge über eine Mehrheit der Sitze in der Assemblée Nationale. Darum brauche es nun gezwungenermaßen eine „pluralistische Mehrheit“ jener Parteien im Parlament, die sich in der republikanischen Front gegen die extreme Rechte vereint hatten, um den Rassemblement National von Marine Le Pen zu schlagen. Weder die Kandidaten des linken „Nouveau Front populaire“, noch seine eigenen der zentristischen Allianz „Ensemble“, noch die konservativen Républicains wären sicher gewählt worden, wenn sich die jeweils Drittplatzierten anderer gemäßigter Parteien in der Stichwahl nicht zurückgezogen hätten.
Frankreich hat keine Erfahrung mit solchen Koalitionsverhandlungen
Aus dem Wahlergebnis könne man lesen, dass die Franzosen mehrheitlich wollten, dass das Land von diesen Kräften regiert würde, schreibt Macron. Darum sollten die sich jetzt zusammensetzen und miteinander reden, um einen Weg zu finden für eine solide Regierung – zunächst mit einem „pragmatischen und lesbaren Programm“, das die Bedürfnisse der Franzosen aufnehme. Die Überlegungen über die Posten kämen erst danach. Für diesen Dialog wolle er den Parteien die nötige Zeit lassen. Die Situation ist ja schließlich neu: Frankreich hat keine Erfahrung mit solchen Koalitionsverhandlungen; in der Fünften Republik, seit 1958, hat es das noch nie gegeben. Und solange dieser Dialog laufe, so Macron, bleibe die aktuelle Regierung von Premier Gabriel Attal im Amt.
Der Präsident stellt minimale Kriterien auf dafür, in welchen Werten diese „republikanische Koalition“ sich wiedererkennen müsste: nämlich in den republikanischen Institutionen, im Rechtsstaat, dem Parlamentarismus, im europäischen Weg und der Verteidigung der französischen Unabhängigkeit. Im Licht dieser Werte werde er dann einen neuen Regierungschef nominieren.
Dieser Brief und dessen Exegese wird viel Aufregung in den ohnehin schon überaus echauffierten politischen Betrieb bringen. Zunächst im linken Lager, das überraschenderweise als knapper Sieger aus der Wahl hervorgegangen war – mit 182 Sitzen. Seit Sonntagabend beteuern die Köpfe des „Nouveau Front populaire“, sie würden in Bälde dem Präsidenten einen Premierminister aus ihren Reihen vorschlagen: Macron habe seit 2022 ja auch nur mit relativer Mehrheit regiert. Die allerdings brachte es auf 250 Stimmen. Die absolute Mehrheit liegt bei 289.
Interessant ist auch die Frage, ob Macron mit seinen Kriterien die radikal linke Partei La France insoumise ausschließt aus dem Kreis der „republikanischen Kräfte“, die an einer Koalition arbeiten sollten. Explizit wird das nicht im offenen Brief. Die Insoumis und ihr hoch umstrittener Anführer Jean-Luc Mélenchon sind ein Teil des linken Bündnisses und gehörten auch zu den maßgeblichen Antreibern für den Bau einer Brandmauer gegen die Lepenisten. Etliche Leute aus Macrons Partei sind dank des konsequenten Rückzugs von Mélenchons Kandidaten überhaupt gewählt worden. Doch Macron hat in der jüngeren Vergangenheit oft genug gesagt, was er von der France insoumise hält, und das ist nicht viel: Er hält sie für „extrem“, obschon das Innenministerium das anders sieht.
Ziel ist es wohl, die anderen Blöcke zu spalten
Mit seinem Brief versucht der Präsident, Zeit zu gewinnen und seine Partei ins Zentrum aller politischen Planspiele zu rücken, obschon es von allen Parteien die größten Verluste erlitten hatte bei den Wahlen und nur noch zweitgrößte Kraft ist im Parlament mit 168 Sitzen. Ziel ist es wohl auch, die anderen Blöcke zu spalten. Im „Nouveau Front populaire“ gibt es Parteien, die sehr wohl bereit sind, in einer erweiterten Regierung der Mitte mitzutun – selbst in der France insoumise werden sich einzelne, womöglich etliche Abgeordnete finden lassen, die mit Mélenchon brechen würden.
Bei den Republikanern, rund 60 Sitze, ist es ähnlich. Doch niemand würde das so sagen. Ihr neuer Fraktionschef, Laurent Wauquiez, sagte kurz nach der Veröffentlichung von Macrons Brief: „Wir machen nicht mit bei einer Regierungskoalition.“ Höchstens wolle man sich einen „Parlamentspakt“ überlegen.