Frankreich:Baby-Blues

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Den Franzosen gehen die Kinder aus: Im bislang fruchtbarsten Land Europas geht die Zahl der Geburten stark zurück. Die Kürzung des Kindergelds für reiche Eltern scheint nur einer von mehreren Gründen zu sein.

Von Christian Wernicke

Die Zahlen erfassen nicht einmal ein vollständiges Jahr, doch der Schock sitzt tief: Seit 1999 kamen in den ersten neun Monaten eines Jahres in Frankreich nicht mehr so wenige Kinder zur Welt wie 2015. Um exakt 2,75 Prozent, von 584 879 auf 569 000 ist die Zahl der Neugeborenen in diesem Jahr gesunken, ein Minus von knapp 16 000 Geburten. "Frankreich gehen die Kinder aus", titelt am Mittwochmorgen der Parisien. Noch am Morgen wirft die Opposition der Regierung Versagen vor, bis zum Nachmittag haben die Ziffern eine neue Variation des alten, trübsinnigen Nationalgesangs intoniert - des Klagelieds vom französischen Niedergang nämlich.

Besonders laut wie immer trommelt der Front National. In Komplizenschaft mit Europa, so schimpfen die Rechtsextremen, habe die regierende Linke mit ihrer Sparpolitik die Fruchtbarkeit der Landsleute erstickt. Recht ähnlich tönt Eric Ciotti, der innenpolitische Sprecher der oppositionellen Republikaner: "Ja, das Sinken der Geburtenzahl ist Schuld der Linken!" Tatsächlich hatte die sozialistische Regierung voriges Jahr die Kindergeldzahlungen für reiche Familien gekürzt. Aber auch der konservative Präsident Nicolas Sarkozy hatte (per Steuerreform 2011) Frankreichs potenzielle Eltern schon um einiges Geld gebracht - ohne Konsequenzen für deren Zeugungsbereitschaft. Die Experten von der nationalen Statistikbehörde Insee jedenfalls glauben nicht an einen kurzfristigen Zusammenhang zwischen Kinderprämien und "Baby-Blues".

Die typisch französische Ursachenforschung mutmaßt am Mittwoch, wirtschaftliche Malaise und hohe Arbeitslosigkeit ruinierten die Kinderliebe. Nur, warum erst jetzt, wenn die Jobkrise schon 2008 begann? Andere Experten verweisen auf die allgemeine Seelenlage ihrer Mitbürger. Tatsächlich geben sich die Franzosen in Umfragen seit Jahren als eines der weltweit missmutigsten und pessimistischsten Völker auf Erden zu erkennen. Nur, wirklich neu ist diese kollektive Depression auch nicht.

In der Debatte untergegangen ist der Hinweis der Demografen, der Grund für den Nachwuchs-Mangel könnten fehlende Mütter sein: Die Frauen aus der Baby-Boomer-Generation sind allmählich alle über 40, weniger Eltern danach bringen logischerweise weniger Kinder zur Welt.

Bezeichnend für die Lust am eigenen Untergang ist, dass die Franzosen am Mittwoch beinahe vergaßen, auf welch hohem Niveau sie jammern. Mit statistisch 1,99 Kindern pro Französin erfreut sich die große Nation noch immer der höchsten Fruchtbarkeit in Europa. Deutschland, ansonsten jenseits des Rheins oft zum Paradies verklärt, zählt nur 1,39 Kinder.

© SZ vom 05.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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