Frankreich-Algerien-Konflikt:Bis zum Gewaltaufruf auf Tiktok

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Als 2022 Emmanuel Macron Algier besuchte, wehten die Flaggen von Frankreich und Algerien noch einträchtig nebeneinander. (Foto: Ludovic Marin/AFP)

So heftig haben sich Frankreich und seine frühere Kolonie Algerien lange nicht mehr attackiert. Die Streitfrage: Wem gehört die Westsahara? Die Antwort aus Paris stößt die Algerier vor den Kopf.

Von Oliver Meiler, Paris

All dieser Hass auf der Plattform Tiktok. Die französischen Behörden haben in den vergangenen Wochen sieben sogenannte Influencer festgenommen, die in Kurzvideos dort Brandreden auf Frankreich gehalten haben und zu Gewalt aufriefen, auch zu Mord. Es sind Algerier oder Doppelbürger mit Zehntausenden Followern, kleine Stars in der algerischen Diaspora Frankreichs. Sie treten mit Pseudonymen auf: „DJ Rafik“, „Imad Tintin“ oder „Zazou Youcef“. Gemeinsam haben sie auch, dass sie plötzlich radikal und politisch aktiv geworden sind. Zumindest waren sie davor so nicht sonderlich aufgefallen.

Kann es sein, wie das in Frankreich viele vermuten, dass diese Influencer zur Hetze angestiftet wurden in einer konzertierten antifranzösischen Operation – und zwar aus Algier?

Ein spektakulärer diplomatischer Eklat

Auch Frankreichs rechter Innenminister Bruno Retailleau stellt sich die Frage. Er will sich das Treiben der Tiktoker nicht länger bieten lassen, weil man diesen Leuten, wie er sagt, „nichts durchgehen lassen darf“. Einer von ihnen sollte nach Algerien abgeschoben werden. „Doualemn“, bürgerlich Boualem Naman, 59, arbeitet als Reinigungsfachkraft an einer Schule in Montpellier, auf Tiktok folgen ihm 138 000 Menschen. Retailleau entsandte zwei Beamte, die ihn auf dem Flug begleiteten. Doch Algerien wies seinen Bürger noch auf dem Flugplatz ab, ohne weitere Erklärung. „Doualemn“ und die Beamten mussten mit der nächsten Maschine nach Paris zurückkehren.

Das war ein spektakulärer diplomatischer Eklat, Retailleau sprach vom Versuch einer „Erniedrigung“. Und gleichzeitig war es nur eine mindere Episode eines viel tieferen Zerwürfnisses zwischen der früheren Kolonie und der ehemaligen Kolonialmacht.

Die Zeit vergeht einfach nicht zwischen Algier und Paris, auch mehr als sechs Jahrzehnte nach der Unabhängigkeit Algeriens nicht.  Und wie immer, wenn sich die beiden Länder streiten, verläuft die Debatte leidenschaftlich und grundsätzlich, mit pauschalen Unterstellungen und viel Propaganda. Es ist ein bisschen wie unter alten Verwandten, die nicht ohneeinander können, aber auch nicht miteinander. Es ist zu viel passiert in ihrer unseligen, gemeinsamen Geschichte, inklusive eines langen Kriegs mit vielen Opfern.

Macron galt als Freund Algeriens – bis er ein Sakrileg beging

Begonnen hat der neuerliche Streit schon im vergangenen Sommer. Frankreichs Präsident hatte in einem Brief eine historische Konzession an Marokko gemacht, Algeriens Nachbarn und großen Rivalen im Maghreb. Emmanuel Macron schrieb in dem Brief, dass die Zukunft der ehemals spanischen Westsahara, auf die beide Länder einen Anspruch erheben, marokkanisch sei – autonom zwar, aber eben marokkanisch. Für Algerien, das in seinem Südosten seit den 1970er-Jahren mehr als 150 000 Flüchtlinge aus der Westsahara und Kämpfer der saharauischen Befreiungsfront Polisario beherbergt, beging Macron da ein Sakrileg.

Diese offizielle Parteinahme Frankreichs in dem Konflikt um den rohstoffreichen Streifen Wüste am Atlantik – das ist für Algerien so etwas wie ein Treuebruch für immer. Macron reiste dann im Herbst mit einem halben Dutzend Ministern und einer Reihe Unternehmern nach Marokko und wurde wie ein Freund empfangen. Die vielen Polemiken der vergangenen Jahre, das kalte Verhältnis Macrons zu Marokkos König Mohammed VI. – alles war mit einem Schlag weg. Für Marokko ist die Westsahara eine nationale Existenzfrage, zumal politisch. Die Franzosen sicherten sich bei der Gelegenheit Großaufträge für ihre Industrie in Marokko, einem der dynamischsten Märkte Afrikas.

Nun kann man sich fragen, warum Paris es mit seiner klaren Positionierung zur Westsahara in Kauf nahm, Algerien so dramatisch zu brüskieren, dass es seinen Botschafter aus Paris abzog. Macron, so die Deutung in Frankreich, hat irgendwann die Geduld mit den Algeriern verloren. Als er 2017 Präsident wurde, hatte er noch als „ami de l’Algérie“ gegolten, als Freund Algeriens. Kein französischer Staatschef vor ihm hatte deutlichere Worte für die Kolonialisierung gefunden. Während der Wahlkampagne beschrieb er sie einmal als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit, eine wahre Barbarei“. Doch seine Initiativen zur Aufarbeitung der Kolonialzeit und zur Versöhnung misslangen. Das lag auch daran, dass sie den Algeriern nicht weit genug gingen. Können sie je weit genug gehen?

Algier macht Frankreich auch zum Sündenbock, um Kritik an der eigenen Machtelite abzuwehren

Die alte algerische Machtelite setzt Frankreich immer gern als Schlagsack ein, wenn sie innenpolitisch unter Druck gerät, als idealen Sündenbock – wie jetzt, wo sich eine neue Bürgerbewegung formiert, die im Netz mit dem Hashtag „Wir sind unzufrieden“ firmiert. Wieder wirft Algier (und werfen die Influencer auf Tiktok) den Franzosen vor, sie steckten hinter dem Aufstand, ihre Geheimdienste mischten sich in algerische Angelegenheiten ein und ließen sich dabei auch von berühmten algerischen Regimekritikern leiten. Einen von ihnen, den franko-algerischen Schriftsteller und Oppositionellen Boualem Sansal, hält Algerien seit November fest – wegen angeblicher „Gefährdung der nationalen Sicherheit“.

Sansal ist 75 Jahre alt und krank. Zuweilen wird er aus seiner Zelle in ein Krankenzimmer verlegt. Doch alle Appelle aus Europa, ihn freizulassen, verpufften bisher. „Algerien verliert seine Ehre“, sagt Macron, und mit diesem Kommentar trägt er eher nicht zur Besänftigung bei.

Mittlerweile ist die Lage dermaßen angespannt, dass Innenminister Retailleau und mit ihm die gesamte Rechte und extreme Rechte Frankreichs eine Revision des historischen Migrationsabkommens von 1968 fordern. Es erleichtert bisher den Algeriern die Einreise nach Frankreich für Familienzusammenführungen und für die Suche nach einem Job: Auch für lange Aufenthalte brauchen sie kein Visum. Nun soll dieser Deal bald nicht mehr gelten?

Retailleau baut gerade seine wachsende Beliebtheit auf dieser Forderung auf. Jeden Tag wiederholt er sie, ebenfalls sehr demagogisch. Ein solches Abkommen kann nämlich nur dann geändert werden, wenn beide Vertragspartner einverstanden sind. Das liegt in der Natur von Verträgen. Algier aber denkt nicht daran, jetzt schon gar nicht – warum sollte es auch?

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