Fotograf Igor Kostin über Tschernobyl:"Sie müssten doch längst tot sein"

Er war in der Hölle von Tschernobyl, machte mit die ersten Bilder vom explodierten Reaktor. Ein Gespräch mit dem Fotografen Igor Kostin über die Angst vor der Radioaktivität, verstrahlte Menschen - und das Leben nach einer Reaktorkatastrophe.

Eugen Maier

Igor Kostin, 74, hat das Elend der Tschernobyl-Katastrophe auf Bildern festgehalten. Der ukrainische Fotograf reiste in den Wochen und Monaten nach der Reaktorexplosion in das Gebiet und dokumentierte in den Folgejahren die Folgen des Super-GAUs. Zerstörung, Missbildungen, Tod - seine Bilder zeigen das verheerende Ausmaß des Unglücks. Dokumentiert hat er auch die Arbeit der sogenannten Liquidatoren: Soldaten, die den atomaren Müll eigenhändig entsorgten. Auf seinen Touren wurde Kostin selbst verstrahlt und ist regelmäßig in ärztlicher Behandlung. Derzeit lebt er mit seiner Frau in Kiew.

Fotograf Igor Kostin über Tschernobyl: Luftaufnahme des Kraftwerks Tschernobyl nach der Explosion. Die Grobkörnigkeit ist auf die extrem hohe Strahlung zurückzuführen. Alle anderen Aufnahmen von Igor Kostin sind vollständig schwarz.

Luftaufnahme des Kraftwerks Tschernobyl nach der Explosion. Die Grobkörnigkeit ist auf die extrem hohe Strahlung zurückzuführen. Alle anderen Aufnahmen von Igor Kostin sind vollständig schwarz.

(Foto: Igor Kostin/Corbis/Kunstmann)

sueddeutsche.de: Herr Kostin, was ging Ihnen in dem Moment durch den Kopf, als Sie zum ersten Mal nach Tschernobyl flogen und der Hubschrauber sich dem Reaktor näherte?

Igor Kostin: Ich dachte darüber nach, gleich das zu sehen, worüber alle reden. Die ganze Welt war in Aufruhr. Ein amerikanischer Satellit hatte die Explosion als erster gemeldet. Seitdem gab es viele Diskussionen, dass in Tschernobyl ein schrecklicher Unfall passiert ist.

sueddeutsche.de: Was haben Sie dort aus dem Hubschrauber gesehen?

Kostin: Ich sah eine große schwarze Grube, wie ein schwarzes Grab. In einem Hubschrauber ist es normalerweise sehr laut. Dennoch war es für mich totenstill. Wäre eine Fliege vorbeigeflogen, hätte ich sie gehört.

sueddeutsche.de: Haben Sie Menschen gesehen?

Kostin: Nein, es war alles wie ausgestorben. Die Strahlung war enorm hoch. In der ersten Zeit wurden dort keine Menschen eingesetzt, um die Schäden zu beseitigen, sondern Roboter. Aber deren Computersystem hat versagt.

sueddeutsche.de: Sie wurden selber verstrahlt. War Ihnen das vorher klar?

Kostin: Nein, ich wusste das nicht, ich habe gar nicht darüber nachgedacht. Mich hat der Reporterinstinkt getrieben. Ich öffnete das Bullauge und machte Fotos. Das durfte man nicht, aber das habe ich damals nicht verstanden.

sueddeutsche.de: Sogar Ihre Kameras haben wegen der Strahlung nicht funktioniert. Hat Sie das nicht stutzig gemacht?

Kostin: Ich habe zuerst gedacht, dass mit den Dingern einfach etwas nicht stimmt. Dass ich zum Beispiel die Batterie nicht aufgeladen habe. Mir ist nicht klar gewesen, dass die Strahlung sich auf die Akkus auswirkt.

sueddeutsche.de: Menschen sollen Radioaktivität zunächst überhaupt nicht spüren. Wie empfanden Sie das?

Kostin: Das ist so. Das ist ja die Gefahr von Strahlung. Wenn du im Krieg bist, siehst du, von wo geschossen wird, und du fühlst, wenn es dich erwischt hat. Radioaktivität spürst du hingegen nicht im Geringsten. Überhaupt nicht. Es fängt erst später an.

sueddeutsche.de: Was passiert dann?

Kostin: Nachdem ich drei, vier Tage dort gearbeitet habe, bin ich nach Kiew zurückgekehrt. Militärärzte haben gesagt, man soll nach dem Kontakt mit der Strahlung Wodka trinken, das reinige die Schilddrüse. Also trank ich ein Glas Wodka und fing an zu essen. Wenn du aber anfängst zu essen, musst du nach einigen Minuten gleich erbrechen. Du gehst auf die Toilette, übergibst dich, und wenn du dann zum zweiten Mal etwas isst, scheint schon wieder alles in Ordnung zu sein. Das Gleiche passiert auch, wenn du zurückkehrst ins verstrahlte Gebiet. Der Organismus muss sich den jeweils anderen Gegebenheiten anpassen.

sueddeutsche.de: Gibt es andere Symptome?

Kostin: Wer verstrahlt wurde, verspürt vor allem Schwäche. Auch das Nervensystem ist sehr aufgewühlt. Vieles hängt vom Organismus selber ab. Wenn der Körper stark und gesund ist, hält er das aus. Wenn du dann eine Zeit lang unter normalen Bedingungen gelebt hast, ohne Stress, mit ausreichend Essen, viel Schlaf, dann klingt das ab. Der Organismus richtet sich wieder auf. Nachdem ich einen Monat in der Moskauer Klinik Nummer sechs war, in der Strahlenkrankheiten behandelt werden, kam ich nach Kiew zurück als ein anderer Mensch.

sueddeutsche.de: Wie haben Einheimische auf die Katastrophe in Tschernobyl reagiert? Immerhin ist die Explosion eines Kernkraftwerks eine der größten Ängste der Menschheit.

Kostin: Sie blieben ruhig. Panik gab es dort überhaupt keine. Als ich dort unterwegs war, saßen viele einfach nur da, obwohl die Fenster ihrer Häuser mit Blei verdeckt waren. Vielleicht zeichnet dieses ruhige Verhalten ja Völker aus, die in solchen extremen Situationen sind.

sueddeutsche.de: Wussten die Leute, dass sie drauf und dran waren, zu sterben?

Kostin: Sie hatten gehört, was für düstere Informationen über den Unfall um die Welt gingen. Sie hatten schon verstanden, dass es ihnen sehr schlecht gehen wird. Einmal kam ein Mann auf mich zu und sagte: "Kumpel, mach doch mal ein Bild von mir. Ist für meine Mutter. Sie soll sich an mich erinnern." Es war furchtbar. Sie haben damit gerechnet, dass es sehr schlecht für sie ausgehen wird. Sie fügten sich aber alle dieser Aussicht. Sie fanden sich einfach damit ab. Es war eine Massenbewegung.

sueddeutsche.de: Konnten Sie das verstehen?

Kostin: Nein. Ich hatte das nicht verstanden. Damals nicht und heute auch nicht.

"Sie haben den radioaktiven Müll mit Schaufeln weggeräumt"

sueddeutsche.de: Sie haben auch die Liquidatoren begleitet, also Soldaten, die die radioaktiven Trümmer nach der Explosion beseitigt haben. Wie sah deren Arbeit aus?

Kostin: Die meisten radioaktiven Trümmer waren auf dem Dach des dritten Blocks gelandet. Da Roboter nicht funktionierten, wurden Menschen dorthin geschickt. Sie haben den radioaktiven Müll nur mit Schaufeln weggeräumt. Man nahm etwas davon auf die Schippe, rannte zum Block vier, kippte ihn in die Grube und rannte wieder weg. Wegen der extremen Strahlenbelastung dauerte eine Schicht 20 bis 40 Sekunden. In dieser Zeit schaffte man nur eine Aktion mit der Schaufel, dann musste man wieder runter und es kam der Nächste. Für den Einsatz bekamen sie eine Auszeichnung und 100 Rubel. Das waren damals maximal zehn Dollar. Pro Person gab es nur einen einzigen Einsatz. Dreieinhalbtausend Soldaten waren da auf dem Dach, einer Fläche von vielleicht 50 mal 50 Metern, grob geschätzt.

sueddeutsche.de: Wussten die Soldaten, wie gefährlich diese Arbeit war?

Kostin: Das war ein Befehl, und sie marschierten. Punkt, aus. In der Armee führst du Befehle aus. Sie wurden per Befehl hinbeordert.

sueddeutsche.de: Die Liquidatoren wurden mit einem Bus zum Reaktor gefahren. Sie haben sie bei so einer Fahrt begleitet. Wie muss man sich die Atmosphäre im Bus in so einer Situation vorstellen?

Kostin: Alle waren still, denn sie wussten, wo es hingeht. Sie rauchten eine Zigarette und fuhren los. Keiner hat sich als Held gefühlt. Jeder hat einfach nur seine Aufgabe erfüllt.

sueddeutsche.de: Und Sie selbst?

Kostin: Der General, der den Einsatz auf dem Dach leitete, sagte zu mir, man bräuchte ein Bild vom Dach. Wir haben riesige Aufnahmen gemacht, zwei Meter groß, damit die Soldaten, wenn sie für 20 bis 40 Sekunden dort hinausrennen, gleich an die Stelle rennen können, wo der Müll liegt. Damit man die Soldaten nicht verheizt, sollte ich diese Bilder machen. Ich war fünf Mal dort oben und habe fünf Auszeichnungen bekommen, auf die ich stolz bin.

sueddeutsche.de: Wie viele Liquidatoren leben ungefähr noch?

Kostin: An den Aktionen waren ungefähr 800.000 Menschen beteiligt. Es gibt keine offizielle Statistik, aber ich würde schätzen, dass etwa 30 Prozent nicht mehr unter uns sind. Es widert mich an, dass unser Land nicht in einer menschlichen Weise mit den Überlebenden umgeht. Mit denen, die praktisch mit ihren Händen viele Völker gerettet haben. Vor allem die, die auf dem Dach gearbeitet haben. Das war die gefährlichste Arbeit überhaupt. Damals hatte irgendein hohes Tier gesagt, er würde niederknien vor Roboter Petja und Roboter Wasja, wie die Liquidatoren genannt wurden. Sie waren Bio-Roboter.

sueddeutsche.de: Was macht der Staat derzeit falsch?

Kostin: Ich bekomme viel Post, weil ich mich oft auf Veranstaltungen für diese Leute einsetze. Einmal war ein Brief darunter von einem der Liquidatoren. Er schrieb: "Ich bin Roboter Wasja, ich war auf dem Dach." Als er zu der Staatlichen Stelle gegangen war, wo es die speziellen Rentenzahlungen für solche Leute gibt, bekam er als Antwort: "Lügen Sie uns nichts vor. Die, die auf dem Dach waren, sind längst tot." Er hat bis heute kein Geld gesehen. Er schrieb mir: "Igor, sind wir etwa daran schuld, dass wir am Leben geblieben sind?" Ich finde keine Worte für die Amoralität der Beamten, die solchen Menschen helfen müssten. Viele Liquidatoren haben heute kein Geld für Medizin. In Kiew gibt es ein Zentrum für Strahlenmedizin, wo ich selbst zwei Mal im Jahr zur Behandlung bin. Die Leute müssen dort mit ihren eigenen Medikamenten auftauchen.

sueddeutsche.de: Wussten die Menschen von Anfang an um die Spätfolgen von Radioaktivität?

Kostin: Die haben nicht darüber nachgedacht. Es waren einfache Leute, die dort lebten. Ein Glas Wodka, gutes, herzhaftes Essen und der Glaube daran, dass alles vorbeigeht, haben geholfen. Denn das ist das Wichtigste. Wenn du dir selber einredest, dass du eine Krankheit hast, wirst du am nächsten Morgen auch eine haben. Darüber darf man nicht nachdenken. Niemals. Egal aus welchem Grund. Es ist wie beim Sport: Im Fußball kannst du dir das Bein brechen, als Boxer kannst du sterben. Wenn ein Sportler sich darüber Gedanken macht, wird er nie aufs Feld oder in den Ring steigen.

sueddeutsche.de: Die Strategie bestand einfach darin, nicht darüber nachzudenken?

Kostin: Ja. Auch heute denken sie nicht darüber nach.

sueddeutsche.de: In einem Interview haben Sie mal gesagt, Sie hätten die Bilder gemacht, damit sich so etwas nicht wiederholt, damit die Welt etwas lernt. Hat sie etwas gelernt?

Kostin: Überhaupt nichts. Vor fünf Jahren hat das Kabinett der Ukraine, damals unter dem Vorsitz des Präsidenten Juschtschenko, den Bau von 22 neuen nuklearen Blocks beschlossen. Was das Land durchgemacht hat und immer noch durchmacht, wurde ignoriert. Sie haben die Ukraine auf einen atomaren Sprengkopf gesetzt. Tschernobyl hat sie rein gar nichts gelehrt. Und man sieht, was jetzt in Japan passiert, einem der Länder mit der besten Technologie.

sueddeutsche.de: Was war der erste Gedanke bei Japan?

Kostin: Ich betete zu Gott, er möge die Menschen beschützen.

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