Fotograf Jeff Widener:Ein Moment, ein Foto und ein ganzes Leben

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Das Bild hat Jeff Wideners Leben für immer geprägt: Der "Tank Man", der die Panzer auf dem Platz des Himmlischen Friedens stoppt. (Foto: picture alliance / AP)

Vor 25 Jahren fotografierte Jeff Widener den Mann, der beim Massaker am Platz des Himmlischen Friedens in Peking eine Panzerkolonne stoppte. Die Aufnahme vom "Tank Man" machte Geschichte. Der Journalist muss damit klarkommen.

Von Christoph Giesen

Der Mann, der eines der berühmtesten Fotos des 20. Jahrhunderts geschossen hat, sitzt in einem Hamburger Apartment und archiviert seine Bilder. Seit ein paar Jahren lebt er hier gemeinsam mit seiner Frau, einer Lehrerin. 57 Jahre ist Jeff Widener nun alt, ein Veteran des Journalismus.

Über hundert Länder hat er bereist, in Sri Lanka wurde er angeschossen, er war am Südpol und begleitete Johannes Paul II. nach Papua-Neuguinea. Doch da ist dieses eine Foto, das über allem steht, egal, was Widener vorher fotografiert hat, egal, was er seither gemacht hat und noch machen wird.

Das Bild aus Peking, der Mann, der für ein paar Sekunden die Geschichte anhielt, als er sich einer Kolonne von Panzern in den Weg stellte - dieses Bild ist Fluch und Segen für Widener. Es ist sein Bild und es hat die Welt verändert, genauso wie es aber auch sein Leben geprägt hat: Jeff Widener, der großartige Fotograf, von dem die Welt nur ein einziges Bild in Erinnerung hat.

Das Foto ist Wideners Vermächtnis - und seine Vistenkarte

Widener hat in seine Wohnung eingeladen. Er lebt in einem dieser Arbeiterstadtteile, die vielleicht in ein paar Jahren hip sein werden. In einem der Zimmer hat er sein Archiv eingerichtet. Ein Scanner steht auf dem Schreibtisch, mit dem Gerät digitalisiert er sein Leben. In Fotomappen bewahrt er Bilder für Ausstellungen auf. Er nimmt eine Mappe zur Hand: beeindruckende Aufnahmen aus Afrika hinter Klarsichtfolie, vor kurzem war er da. Soldaten hat er fotografiert, alte Männer, Tiere.

Von der Anmutung, dem Schnitt her sind sie alle viel besser als das Foto mit den Panzern. Und doch ist das sein Vermächtnis und auch seine Visitenkarte. Widener hat sie gleich zum Anfang des Gesprächs übergeben: vier Panzer und davor ein Mann, weißes Hemd, schwarze Hose und in der Hand einen Beutel. Auf der Rückseite Wideners E-Mail-Adresse und Telefonnummer.

"Ich war in meinem Leben sehr oft Charlie Brown", sagt Widener. "Vieles was ich angefasst habe, ging irgendwie schief. Doch in diesem einen Moment am 5. Juni 1989 habe ich auf den Auslöser gedrückt und das Richtige getan."

Mitte Mai kamen täglich eine Million Menschen auf den Platz

Widener, mittlerweile selbstständig, war 1989 Fotochef für Asien bei der amerikanischen Nachrichtenagentur Associated Press (AP). Er hatte ein Büro in Bangkok, war aber ständig unterwegs, in Burma, in Vietnam, Kambodscha. Widener war einer der besten Nachrichtenfotografen in einer Zeit, als man nicht beliebig oft den Auslöser einer Digitalkamera drücken konnte in der Hoffnung, eines der Fotos werde schon gut. Der Platz auf den Filmrollen war begrenzt.

Tiananmen-Massaker vor 25 Jahren
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Das Blutbad vom Platz des Himmlischen Friedens erschütterte vor 25 Jahren die Welt. Chinas Regierung versucht, alle Spuren dieses Tages zu beseitigen. Sie will das Massaker vergessen machen. Eine multimediale Suche nach Erinnerungen.

Heute klappen Fotoreporter ihren Laptop auf, sichten die Bilder am Computer und übertragen sie per mobiler Internetverbindung in die Redaktion. Für Widener begann nach dem Fotografieren die zweite Schicht: Fotos entwickeln in stickigen Hotelbadezimmern irgendwo in Asien, die Bilder dann im Thermoprintverfahren in eine Ansammlung von Linien verwandeln, dann ran ans Telefon, einen oder zwei geglückte Schüsse in die Zentrale kabeln. Die Verbindung musste dazu einige Minuten stabil sein, ein Knacken in der Leitung oder der Geheimdienst, der für ein paar Sekunden das Gespräch störte - und das Foto wurde nicht sauber übertragen.

Im Frühjahr 1989 hatte Widener von Bangkok aus die Lage in Peking im Blick. Nach dem Tod des beliebten Parteichefs Hu Yaobang hatten Studenten im April den Platz des Himmlischen Friedens besetzt und eine Zeltstadt errichtet, sie forderten mehr Demokratie. Mitte Mai drängten sich täglich fast eine Million Menschen auf dem Platz und legten das Zentrum der chinesischen Hauptstadt lahm. Als Michail Gorbatschow, der Generalsekretär der KPdSU, zum Staatsbesuch kam, musste Chinas Führung ihn durch die Hintertür in den Zhongnanhai, die Machtzentrale der Volksrepublik geleiten.

In der Partei setzen sich danach die Hardliner durch, sie wollten den Protest beenden, notfalls mit Gewalt. Ministerpräsident Li Peng verhängte am Abend des 19. Mai den Ausnahmezustand in Peking. Über Hongkong reiste Widener nach China ein. An der Grenze hatte er Glück, die Beamten filzten ihn nicht, dabei hatte er jede Menge Equipment dabei: Kameras, Filme, die Geräte zur Fotoübertragung. "Gerade als ich dran war, hat eine Frau angefangen zu zetern, sie wollte ein lebendes Huhn über die Grenze bringen", sagt Widener.

...und heute, 57 Jahre alt (Foto: AFP)

In Peking war er dann jeden Tag unterwegs, er fuhr mit dem Fahrrad vom Büro der Nachrichtenagentur hinüber zum Platz. Dort ging es friedlich und geordnet zu, gegen Mittag stellten sich die Studenten zum Essen an, wie in der Mensa.

Doch plötzlich, in der Nacht vom 3. auf den 4. Juni, rollten die Panzer, die Armee rückte vor und nahm den Platz ein. Mitten im Getümmel Jeff Widener. Er machte etliche Fotos. Dann sah er einen Mann, der Feuer gefangen hatte und sich am Boden wälzte. 60 Sekunden dauerte es, bis der Blitz wieder genug Energie hatte. Er hob die Kamera, schon spürte er den Schmerz. Ein Student hatte einen Stein geworfen, Widener blutete - schwere Gehirnerschütterung. Die Kamera, sie war kaputt, doch sie hat ihm wahrscheinlich das Leben gerettet.

Geweckt vom Rasseln der Panzerketten

Am 4. Juni schlief Jeff Widener den ganzen Tag; sein Kopf schmerzte erbarmungslos. Am 5. Juni meldete er sich trotzdem zum Dienst, er solle den Platz von oben fotografieren, lautete der Auftrag, also machte er sich auf Weg zum Beijing Hotel, an der Chang'an Avenue. Wenn der Platz des Himmlischen Friedens der größte Platz der Welt ist, dann ist die Chang'an Avenue, die an der Nordseite des Platzes vorbeiführt, die verkehrsreichste Straße der Welt - zehnspurig auf beiden Seiten.

Um ins Hotel zu kommen, sprach Widener einen jungen Mann in der Lobby an. "Hallo Joe, wo bist du gewesen?", habe er gefragt, erzählt Widener. Und flüsterte ihm dann zu, er sei Journalist und suche einen Platz, um Fotos von oben zu schießen. Der Mann hieß Kirk Martsen, ein Student aus Amerika, und er bot ihm Hilfe an. Gemeinsam gingen sie auf Kirks Zimmer und von dort aufs Dach des Hotels. Zurück im Hotelzimmer warf sich Widener aufs Bett, sein Kopf schmerzte noch immer.

Später am Vormittag des 5. Juni weckte ihn das Rasseln von Panzerketten. Vom Balkon im sechsten Stock des Hotels aus konnte Widener einen Mann mit Einkaufstüte sehen, der gerade auf die Straße getreten war. Die Panzer stoppten. Widener griff zu seiner Kamera. "Ich beschwerte mich bei Kirk, dass dieser Mann mir meine gesamte Komposition versaut", sagt Widener. Kirk schrie: "Sie werden ihn töten!" Mit der Kamera im Anschlag wartete Widener nun darauf, dass sie den Mann niederschießen würden. Doch genau das passierte nicht.

Der Mann kletterte auf den ersten Panzer und klopfte an die Luke. Währenddessen holte Widener sein Teleobjektiv und montierte es. Der Mann war inzwischen vom Panzer geklettert und wandte sich noch einmal um. Widener drückte auf den Auslöser. Später am Nachmittag schmuggelte Kirk den Film in seiner Unterhose zurück ins AP-Büro. Von dort ging das Foto um die Welt.

Das Massaker begleitet Widener noch immer

Und hat seither auch einen Namen: Tank Man - Panzermann. Genaugenommen gibt es mehrere Aufnahmen des Tank Man. Doch Wideners Foto ist jenes, das immer wieder gedruckt wird. Man erkennt es an den Straßenlampen unten rechts. Wie Widener haben damals noch drei Fotografen die Szene festgehalten. Einer arbeitete für ein Magazin, ein weiterer für eine kleine Agentur.

Der dritte fotografierte für Reuters, den Konkurrenten von AP. Auch er übermittelte den Tank Man, doch der Fotoredakteur in Hongkong erkannte die Brisanz des Fotos nicht, er stellte die Panzeraufnahmen ohne Tank Man in den Dienst. Als tags darauf Wideners Foto auf den Titelseiten fast aller großen Zeitungen der Welt erschien, legte Reuters nach, doch zu spät. Das Tank-Man-Foto hatte Widener geschossen. "Für mich ist Tank Man wie der Unbekannte Soldat. Er steht für alle, die gegen die Unterdrückung kämpfen und an die grundlegenden Menschenrechte glauben", sagt Widener.

Eine Woche nach dem Massaker war sein Auftrag in Peking beendet. Die Erlebnisse begleiten ihn jedoch noch immer. Er hat Sterbende und Tote gesehen. Lange Zeit haben ihn laute Geräusche aufgeschreckt, sie erinnerten ihn an die Schüsse, die damals auf dem Platz fielen.

Zum 20. Jahrestag des Massakers flog ihn die BBC zurück nach Peking. Auf der Chang'an Avenue, unweit der Stelle, wo der Tank Man die Panzer stoppte, saß eine junge deutsche Lehrerin und rauchte eine Zigarillo. Sie kamen ins Gespräch. Heute leben sie gemeinsam in Hamburg, verheiratet. Sie unterrichtet, er sortiert sein Archiv und bereitet Ausstellungen vor.

© SZ vom 04.06.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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