Folteropfer:"Ich hatte so starke Angst, dass ich die Schmerzen nicht merkte"

Libyans are pictured in front of a mural

Folter ist noch immer allgegenwärtig in der Welt: Eine Wandzeichnung im libyschen Tripolis zeigt die Misshandlung von Gefangenen.

(Foto: Mahmud Turkia/AFP/Getty Images)
  • Das "Zentrum Überleben" in Berlin hilft seit 25 Jahren Folteropfern.
  • Zur Gründungszeit kamen bereits viele der Patienten aus der Türkei, jetzt ist das wieder so.

Von Lars Langenau, Berlin

"Sie kamen gegen vier Uhr in der Früh. Fünf oder sechs Männer, darunter zwei Zivilpolizisten. Sie drohten die Tür aufzubrechen. Sofort stürzte sich ein Soldat auf mich. Sie zogen an meinen Haaren, ohrfeigten und schlugen mich. Ich hatte so starke Angst, vergewaltigt zu werden, dass ich die Schmerzen gar nicht merkte. Dann stellten sie mich vor die Wahl: Entweder arbeite ich für sie - oder ich werde im Gefängnis verrecken. Sie gaben mir zwei Tage Zeit, mir das zu überlegen. Als sie weg waren, fühlte ich nur noch Ohnmacht. Stundenlang saß ich allein auf meinem Bett. Wohin sollte ich gehen?"

Saime T. floh. Erst aus der Kleinstadt nahe dem Vansee in Ostanatolien nach Istanbul, dann, mit einem gefälschten Pass, Mitte September vergangenen Jahres mit dem Flugzeug nach Berlin. Die 49-Jährige ist Kurdin, wie die Mehrheit in ihrer Heimat, und Alevitin. Saime T. heißt sie nicht wirklich. Wegen des schwebenden Asylverfahrens und um niemanden zu gefährden, ist ihr Name geändert.

Ihr Mann war in der linken HDP aktiv, der Kurdenpartei. Immer wieder sei er festgenommen und gefoltert worden, auch während seiner letzten Haft. Er starb 2010, kurze Zeit nach seiner Entlassung, an einem angeborenen Herzfehler. Zehn Monate später starb daran auch ihr Sohn, er war vier Jahre alt. Ihr älterer Sohn lebt in Schweden. "Es ist nicht einfach, eine alleinstehende Frau im Osten der Türkei zu sein: Folter, Vergewaltigung, sexuelle Belästigung haben hier eine lange Geschichte", sagt Saime T.

Für einen Moment wirkt sie gefasst. Doch ihre Angst erfüllt den Raum, auch hier, in dem alten Backsteingebäude mitten in Berlin. Es ist eine allumfassende Angst: Sie gilt auch deutschen Polizisten und Staatsangestellten, was es schwierig für sie machte, den Asylantrag überhaupt zu stellen. Über einen Bekannten bekam sie Kontakt zum "Zentrum Überleben". Erst hier, in einem ehemaligen Krankenhaus-Komplex in Berlin-Moabit, fasste sie wieder Vertrauen und Mut.

"Wir erleben gerade einen Rollback in der Türkei"

Seit nun 25 Jahren bietet das Zentrum traumatisierten Opfern von Folter und Kriegsgewalt medizinische, psychotherapeutische und überhaupt jede Hilfe, die ihnen einen Weg zurück ins Leben ermöglichen soll. Anfangs kamen die Patienten vor allem aus Iran und Afghanistan, und auch damals schon aus der Türkei. Heute stammen sie aus den Brennpunkten Syrien, aus dem Irak, Eritrea, Tschetschenien, Libyen - und noch immer oder wieder aus Afghanistan und der Türkei. Hinweise zur Existenz dieser Einrichtung verbreiteten sich über Mundpropaganda in den Flüchtlingszentren. Schnell war die Adresse auch in Istanbul, Ankara und Izmir bekannt.

Laut ihrer Therapeutin Claudia Kruse leidet Saime T. nicht unter einem "einmaligen und klar umgrenzten Trauma, sondern unter einer Ansammlung von vielen Traumatisierungen": unter persönlichen Schicksalsschlägen und Verlusterfahrungen, unter politischer Verfolgung und Unterdrückung seit der Kindheit. "Das ist eine chronische posttraumatische Belastungsstörung mit klassischer Symptomatik."

PTBS ist eine psychische Störung nach einem Ereignis, das die Menschen in ihren Grundfesten erschüttert, tief in die Seele eingreift und bleibende Spuren hinterlässt. Etwa ein Viertel aller Menschen, die eine lebensbedrohliche Situation wie Folter oder Vergewaltigung erlebt haben, entwickelt eine psychische Störung. Andere schützt ihre eigene Widerstandskraft, wieder andere überstehen selbst die schrecklichsten Ereignisse mit der Hilfe von Freunden und der Familie.

Saime T. aber ist allein und besucht einmal die Woche das Therapiezentrum. Erst seitdem sie dort Gespräche führt, kann sie wieder schlafen. "Die Bilder der Patienten, deren Albträume, das geht einem manchmal nach", sagt Mechthild Wenk-Ansohn, 64. Die Allgemeinärztin und Psychotherapeutin ist seit mehr als zehn Jahren Leiterin der ambulanten Abteilung für Erwachsene. "Wir hatten Hoffnung, dass es sich verbessert, aber wir erleben gerade ein Rollback in der Türkei. Es kommen erneut zunehmend Verfolgte und Gefolterte aus der Türkei. Oft haben sie große Angst um die Familienangehörigen vor Ort - denn wenn da eine Person gesucht wird, dann wird oft die ganze Familie heimgesucht."

Ein Beruf und selbst verdientes Geld bewirken oft Wunder

Pro Jahr hilft das Zentrum etwa 600 Menschen. Es sind viel mehr, die hier Hilfe suchen, doch viele werden an niedergelassene Psychiater und Psychotherapeuten verwiesen. Jene, die das Zentrum Überleben selbst annimmt, werden durchschnittlich zweieinhalb Jahre lang therapiert, manchmal allerdings auch bis zu fünf Jahre. 47 Patienten, die ihren Alltag nicht mehr geregelt bekommen, werden in einer Tagesklinik betreut. Zudem gibt es einen betreuten Frauenwohnverbund.

1992 begann das damalige Behandlungszentrum für Folteropfer als kleiner Verein, der eine Ambulanz organisierte und viel später auch eine Tagesklinik. Schon damals war es ein Novum, weil erstmals neben Psychologen auch Ärzte dabei waren. Inzwischen hat sich das Spektrum weiterentwickelt. "Wir sind immer weiter gewachsen, Kinder- und Jugendabteilung, Forschung, den Wohnverbund für Migrantinnen und, und, und", sagt die Geschäftsführerin und ärztliche Leiterin der Einrichtung, Mercedes Hillen. Der Leitspruch laute "Wege in eine menschenwürdige Zukunft" - und die seien erst erreicht, "wenn wir die Schutzbedürftigen vom Asylantrag bis zur gesellschaftlichen Teilhabe bringen. Dabei helfen besonders ein eigener Beruf und selbst verdientes Geld."

All das bewirke oft Wunder: Die Symptome der PTBS wie Depressionen, Ängste und massive Schlafstörungen werden viel schwächer, die Patienten sind weniger aggressiv und haben weniger Albträume. Auch und vor allem, weil sie wieder eine Wertigkeit haben. Viele Patienten waren in ihren Herkunftsländern gut integriert in ihre Jobs und in einem stabilen sozialen Umfeld. Plötzlich ist ihnen durch die Flucht der Boden unter den Füßen weggebrochen. Sie sind verarmt, gedemütigt und fühlen sich wertlos. Deshalb bietet das Zentrum seit Langem Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen sowie berufsqualifizierende Kurse an, sagt Hillen.

"Wir haben einen hohen Preis gezahlt für den Widerstand"

Die gelernte Internistin mit Erfahrungen in der freien Wirtschaft sagt, das Zentrum verfolge integrative Angebote mit einem ganzheitlichen Ansatz: Begleitung des Asylverfahrens, Deutschunterricht, berufsbegleitende Kurse bis zur Ausbildung in der Berufsfachschule Paulo Freire zur Sozialassistenz in der Pflege, wo rund 100 Schüler lernen. "Es ist einzigartig in Europa, dass alles unter einem Dach ist." Vor eineinhalb Jahren habe man den eher enggefassten Namen "Behandlungszentrum für Folteropfer" abgelegt.

Immer wieder weint Saime T., als sie von den Ereignissen in ihrer Heimat erzählt. Die Übersetzerin reicht ihr Taschentücher. Gegen Ende unterbricht ein Weinkrampf das Gespräch. T. aber will noch davon berichten, wie 1992 zwei Männer und eine Frau in ihrer Kleinstadt ermordet wurden. Soldaten hätten alle Straßen, die aus dem Ort hinausführen, versperrt und auf dem Marktplatz drei Pfähle aufgestellt. Die Leichen der Guerillakämpfer der PKK, der kurdischen Arbeiterpartei, wurden dort festgebunden; die Bewohner seien aufgefordert worden zu applaudieren, als den Toten die Ohren und Geschlechtsteile abgeschnitten wurden.

Die Dolmetscherin ringt um Fassung, als Saime T. von den Ereignissen stockend erzählt. Ihre Psychologin unterbricht, sagt, "wir müssen in die aktuelle Zeit zurückkommen" und beendet das Gespräch. Saime T. sagt: "Wir haben einen hohen Preis gezahlt für den Widerstand."

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