Folgen des Zensus' für Kommunen:Minus an Menschen

Folgen des Zensus' für Kommunen: Die Verändung im Zensus 2011 im Vergleich zu früheren Zählungen, jeweils angegeben in Prozent.

Die Verändung im Zensus 2011 im Vergleich zu früheren Zählungen, jeweils angegeben in Prozent.

(Foto: SZ-Grafik: Michael Mainka; Quelle: Statistisches Bundesamt)

Wie groß sind Aachen, Mannheim oder Würzburg tatsächlich? Der aktuellen Volkszählung zufolge sind viele Städte geschrumpft. Für die Kommunen ist das ein "Riesenproblem". Es geht nicht nur um das Ansehen - sondern auch um Geld. Etliche Städte klagen nun.

Von Jan Bielicki und Bernd Dörries

Die Stadt hat den Dom, schöne alte Häuser, und wenn die Aachener Abwechslung haben wollen, dann sind sie in ein paar Minuten in Belgien oder Holland. Es gibt nicht viele Gründe, Aachen den Rücken zu kehren. Trotzdem haben das offenbar viele Leute getan. Denn als das Statistische Landesamt die Daten des jüngsten Zensus zusammenrechnete, kam heraus, dass Ende 2011 in Aachen 238 665 Menschen gewohnt haben. Das waren fast 22 000 Einwohner weniger, als nach bisheriger Rechnung hier lebten - satte 8,4 Prozent minus also und ein negativer Rekord in Deutschland. "Für unser Image ist das schon ein Riesenproblem", sagt der Aachener Oberbürgermeister Marcel Philipp (CDU). Ausgerechnet in ihrem Jubiläumsjahr - 600 Jahre Chorhalle des Doms, 1200. Todestag Karls des Großen - ist die Stadt plötzlich so klein geworden. Die Stadtspitze will das nicht hinnehmen und notfalls vor Gericht verhindern, dass die neue Einwohnerzahl amtlich bleibt.

Ist Aachen ein Einzelfall?

Aachen ist nicht allein. Bundesweit justierte der Zensus die Einwohnerzahlen vieler Städte nach unten - und das oft drastisch. Konstanz etwa hat mit dem Zensus offiziell 8,2 Prozent seiner Einwohner verloren, Mannheim 7,5 Prozent. In ganz Deutschland, so haben die amtlichen Volkszähler errechnet, lebten am Stichtag 9. Mai 2011 etwa 1,5 Millionen weniger Menschen, als die Statistiken bis dahin auswiesen.

Wie gehen die Städte und Gemeinden mit ihrem Schrumpfen um?

Viele wollen die Ergebnisse des Zensus nicht akzeptieren. Bislang haben 833 der bundesweit mehr als 11 000 Gemeinden Widerspruch gegen die nach dem Zensus neu festgesetzten Einwohnerzahlen eingelegt. Das geht aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Linksfraktion hervor. 57 Kommunen sind demnach bereits vor Gericht gezogen. In Baden-Württemberg haben gar 73 Prozent der Städte Protest gegen die entsprechenden Bescheide des Landes geltend gemacht.

Warum ist der Widerstand gegen die Ergebnisse des Zensus in vielen Rathäusern so groß?

Es geht nicht nur ums Image. Nach der Einwohnerzahl richtet sich zwar die Anzahl der Sitze in den Kommunalparlamenten oder das Gehalt der Bürgermeister. Aachen dürfte sich statt von 66 nur noch von 58 Räten regieren lassen. Vor allem aber geht es um Geld. An der Größe einer Gemeinde hängt die Höhe der Zuweisungen, die sie vom Land und aus dem kommunalen Finanzausgleich bekommt. "Für uns bedeuten die niedrigeren Zahlen einen Verlust von zehn Millionen Euro", sagt Aachens OB Philipp. Und das jedes Jahr. Rechnerisch ließen sich damit fast 200 Kindergärtnerinnen beschäftigen. Stuttgart würden 13 Millionen Euro im Haushalt fehlen, Bonn mehr als zwölf Millionen. Berlins ohnehin knappe Kassen müssten nach den Regeln des Länderfinanzausgleichs gar auf fast eine halbe Milliarde Euro verzichten, weil die Volkszähler auf 176 000 Berliner weniger kamen, als bisherige Rechnungen ergaben. Berlin hat Widerspruch eingelegt, auch Hamburg (minus 81 000 Einwohner) prüft eine Klage.

Kommunen sehen ihre Rechte verletzt

Womit begründen die Kommunen ihren Widerspruch?

Die klagenden Gemeinden bemängeln sowohl Methode wie Nachprüfbarkeit des Zählverfahrens. "Wenn Ihre Bank sagt: Aufgrund neuer Rechenmethoden haben Sie jetzt fünf bis acht Prozent weniger auf dem Konto, aber wie es dazu kam, sagen wir Ihnen nicht, Bankgeheimnis! - dann lassen Sie sich das auch nicht gefallen", sagt Norbert Brugger, Dezernent des Städtetags Baden-Württemberg. Tatsächlich dürfen die Statistischen Ämter in Bund und Land aus Gründen des Datenschutzes die Unterlagen, auf denen die Zensuszahlen beruhen, nicht herausrücken. Die Kommunen sehen dadurch ihr Verfassungsrecht auf kommunale Selbstbestimmung verletzt.

Wie sind die Zahlen des Zensus zustande gekommen?

Anders als bei früheren Volkszählungen kamen beim Zensus 2011 die Befrager nicht in jeden Haushalt. Stattdessen glich der Zensus die kommunalen Melderegister mit den Daten anderer Behörden wie der Bundesagentur für Arbeit und den Finanzämtern sowie einer Zählung aller Gebäude und Wohnungen ab. Bei Unstimmigkeiten wurden in Gemeinden mit weniger als 10 000 Einwohnern die betroffenen Leute befragt. Hier weichen die Zensuszahlen nicht allzu stark von bisherigen Daten ab - anders als in größeren Kommunen, wo die Bürger nur stichprobenartig aufgesucht wurden. Diese Stichproben umfassten bundesweit knapp zehn Prozent der Gesamtbevölkerung, waren aber örtlich unterschiedlich groß. So wurden im pfälzischen Monsheim 22 Prozent der gemeldeten Einwohner befragt, in der hessischen Landeshauptstadt Wiesbaden nur drei Prozent.

Wieso wurden nicht alle gezählt?

Die Politik wollte sich den Ärger, den die Volkszählung von 1987 beim gezählten Volk ausgelöst hatte, ersparen - aber auch Geld: Der Zensus kostete 700 Millionen Euro, eine Komplettzählung wäre auf mehr als eine Milliarde gekommen.

Wie genau sind die Zahlen nun wirklich?

Nicht so präzise wie avisiert. Die laut Zensusgesetz "angestrebte Genauigkeit" - einen sogenannten Standardfehler von 0,5 Prozent - erreichten die Statistiker nur in gut einem Drittel der Gemeinden. In fast zwei Dritteln der Kommunen kamen sie auf einen Stichprobenfehler zwischen 0,5 und einem Prozent. Woran das liegt, ist umstritten. Viele Städte beklagen die Qualität der Stichproben. Das Statistische Bundesamt weist dagegen auf die kommunalen Meldestellen: Dort seien "die Unterschiede bezüglich der Verteilung der Karteileichen und Fehlerbestände tatsächlich erheblich höher ausgefallen" als erwartet. Soll heißen: Mehr Bürger als vermutet haben sich nicht ordentlich ab- oder angemeldet. Auf den Meldedaten aber beruhte die bisherige Fortschreibung der letzten Volkszählung, die nun ein Vierteljahrhundert zurückliegt - und im Osten sogar mehr als drei Jahrzehnte. In den jetzigen Abweichungen sehen die Bundesstatistiker keinen Fehler, sondern ein starkes Argument dafür, dass der Zensus erforderlich war: "Die vorliegenden Einwohnerzahlen sind die Daten, die am zuverlässigsten sind."

Wie groß Aachen, Mannheim oder Würzburg amtlich wirklich sind, werden am Ende die Gerichte entscheiden.

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