Folgen des Ersten Weltkriegs:Der Weg in die Hölle hat erst begonnen

Kapp-Putsch, 1920

Berlin Mitte März 1920: Soldaten eines Freikorps mit einem Geschütz in Berlin 'Unter den Linden' . Im Hintergrund ist das Brandenburger Tor zu sehen.

(Foto: SZ Photo)

Der Krieg hinterlässt 1918 eine neue Welt, doch friedlicher ist sie nicht. In Deutschland untergraben Republikfeinde die junge Demokratie - denn der alte Machtapparat blieb von der Revolution unangetastet.

Von Robert Probst

Nach vier Jahren, drei Monaten und elf Tagen schwiegen die Waffen. Und danach war fast nichts mehr, wie es vorher gewesen war. Zumindest erschien es vielen Zeitgenossen so, die miterlebt hatten, welch unfassbare Leiden der große Krieg über die Menschen gebracht hatte.

Das alte Europa ging in diesen turbulenten Tagen des Winters 1918 unter - mit dem ersten Krieg, der fast die ganze Welt erfasst hatte, dem ersten totalen Krieg: einem Krieg mit totalen Zielen, geführt mit dem totalen Einsatz aller verfügbaren technischen Mittel und, damit verbunden, einem unbeschreiblichen Massensterben in den Schützengräben sowie einer bis dahin ungekannten Mobilisierung der "Heimatfront".

Am 11. November 1918 unterzeichnete Staatssekretär Matthias Erzberger im Wald von Compiègne einen Waffenstillstandsvertrag. Und dieser Vertrag besiegelte die totale Niederlage des deutschen Hegemonialstrebens in Europa - für kurze Zeit.

Zweig träumt von einer besseren Welt, ein anderer Österreich beschließt "Politiker zu werden"

Diese vier Jahre des totalen Krieges hinterließen bei allen Beteiligten tiefe Spuren, und das Ende, nachdem ganze Landstriche in Frankreich und Belgien buchstäblich von Granaten umgepflügt und blutgetränkt zurückgelassen worden waren, rief die unterschiedlichsten Reaktionen hervor.

Der österreichische Schriftsteller Stefan Zweig glaubte, naiv, wie er in der Rückschau ("Die Welt von gestern") zugab, nun sei "der Krieg für alle Zeiten erledigt. (...) Nie war so viel Gläubigkeit in Europa wie in diesen ersten Tagen des Friedens. Denn jetzt war doch endlich Raum auf Erden für das langversprochene Reich der Gerechtigkeit und Brüderlichkeit, jetzt oder nie die Stunde für das gemeinsame Europa, von dem wir geträumt. Die Hölle lag hinter uns, was konnte nach ihr uns noch erschrecken? Eine andere Welt war im Anbeginn. Und da wir jung waren, sagten wir uns: es wird die unsere sein, die Welt, die wir erträumt, eine bessere, humanere Welt."

Zeitgleich lag ein anderer junger Österreicher, der als Freiwilliger für die bayerische Armee gekämpft hatte, in einem Lazarett in Pommern. Als er von der Niederlage erfuhr, brach seine Welt zusammen. Der 29 Jahre alte Gefreite Adolf Hitler beschloss, wie er es später stilisierte, "Politiker zu werden".

Der Erste Weltkrieg, diese "Urkatastrophe" des 20. Jahrhunderts, wie der US-Diplomat und Historiker George F. Kennan 1979 schrieb, lässt sich in Statistiken nicht annähernd beschreiben. Und doch geben ein paar Zahlen zumindest eine Ahnung von den kaum fassbaren Dimensionen.

1918 befanden sich knapp 40 Staaten direkt oder indirekt miteinander im Kriegszustand, etwa 60 Millionen Soldaten (in Deutschland: 13,2 Mio.) standen unter Waffen, etwa zehn Millionen Männer (in Deutschland: 2,04 Mio.) wurden in dieser "Knochenmühle" getötet - niedergemäht im Kugelhagel, abgeschlachtet in bestialischen Nahkämpfen, verreckt an Erschöpfung in den Schützengräben.

Etwa 20 Millionen Kombattanten wurden verwundet. Und auch die Zahl der zivilen Opfer geht in die Millionen. Nicht zu erfassen mit Statistiken sind freilich die millionenfachen Traumatisierungen und psychischen Verwundungen - die der Soldaten und die der Angehörigen in der Heimat. Und nicht erfasst sind auch die unterschiedlichsten Hoffnungen und Befürchtungen, die sich an das Kriegsende knüpften.

Eine friedlichere, bessere und humanere Welt im Sinne von Stefan Zweig wurde aber nach dem Blutrausch ganzer Völker nicht geschaffen.

Geschaffen wurden vielmehr zahllose neue Konfliktherde nach dem Zerfall der Habsburgermonarchie, dem Untergang des Osmanischen Reiches und den revolutionären Umwälzungen im einstigen Zarenreich; geschaffen wurden neuer Hass, etwa durch den Genozid der Türken an den Armeniern, und ethnische Konflikte durch die Entstehung neuer, oft wenig homogener Staaten in Südost- und Osteuropa, was zum fatalen Aufstieg diverser autoritärer Systeme führte; geschaffen wurde neuer Streit durch die Neuordnung der Herrschaftsansprüche in Afrika und Asien (da Deutschland alle seine Kolonien an die Siegermächte abtreten musste).

Und geschaffen hatte der Krieg letztlich auch eine neue Großmacht jenseits des Atlantiks: Die Vereinigten Staaten blieben seit dem Kriegseintritt 1917 ein entscheidender Machtfaktor in Europa - sei es durch ihre politischen Forderungen nach einer demokratischen Neuordnung auf dem alten Kontinent, sei es später durch die Wiederaufbauhilfe für die "Weimarer Republik".

Die rechten Nationalisten wollten, dass die Zivilisten "die Suppe auslöffeln"

An das Programm des US-Präsidenten Woodrow Wilson ("Die Welt muss sicherer gemacht werden für die Demokratie") hatten gegen Kriegsende viele Deutsche ihre Hoffnungen auf einen "gerechten" Frieden ohne allzu harte Bedingungen geknüpft. Allein, sie wurden schwer enttäuscht. Durch den Vertrag von Versailles verlor Deutschland ein Siebtel seiner Gebiete und ein Zehntel seiner Bevölkerung, es wurde militärisch fast völlig entmachtet und für alle Kriegsfolgen der Alliierten verantwortlich gemacht.

Nicht nur rechtskonservative Kreise sprachen in diesem Zusammenhang von einem "Schandfrieden", dessen Inhalt mit aller Macht und allen Mitteln zu revidieren sei. Zugute kam den Revanchisten dabei vor allem eins: Deutschland blieb trotz allem auf mittlere Sicht eine europäische Großmacht, zu der es erst 1871 geworden war.

Das deutsche Kaiserreich, gegründet nach dem Sieg über den französischen "Erbfeind", hatte in den Jahrzehnten vor dem Weltkrieg einen extremen Modernisierungsschub zu bewältigen gehabt: durch die Hochindustrialisierung entstanden neue soziale Gruppen (Angestellte, Facharbeiter, Fabrikarbeiter), drängten Heerscharen in die Städte, erstarkte die Arbeiterbewegung, wuchs die Macht der industriellen Eliten und geriet der adlig-großbürgerliche Wertekanon ins Wanken. Mit diesem radikalen ökonomischen und sozialen Wandel hielt der politische Wandel in keiner Weise Schritt - die autoritären Machteliten taten im Gegenteil alles Erdenkliche, um diesen so lange wie möglich zu verhindern.

Mit aller Macht hielten Fürsten, Adlige, Großbürger, ostelbische Großgrundbesitzer und die neuen Stahlbarone an ihren althergebrachten Privilegien fest. Die Notwendigkeiten eines modernen Staates - Teilhabe, Mitbestimmung, Aufhebung des Dreiklassenwahlrechts in Preußen, Aufhebung rechtlicher Diskriminierung ganzer Gesellschaftsgruppen - waren ihnen ein Gräuel. Und anstatt mit Liberalisierung und Demokratisierung reagierten sie auf diesen strukturellen Modernisierungsdruck und die Klassenkonflikte mit einem Ablenkungsmanöver: Mit Hilfe außenpolitischer Erfolge sollte der Wunsch nach Reformen im Inneren umgangen werden.

Diese Erfolge mussten riesig sein, um das marode System zu stabilisieren. Die "Siegfrieden"-Politik der Machthaber war dann auch nichts anderes als die "bestürzende Fusion eines zügellosen Expansionismus und radikal-nationalistischen Triumphalismus", wie der Historiker Hans-Ulrich Wehler schreibt.

Die Ideen zielten, fatal erinnernd an die Hitler-Zeit, auf massive Landgewinne in Ost- und Westeuropa, auf eine "Germanisierung" der "Ostmark", auf einen "Wall deutscher Menschen gegen das Slawentum" und sogar auf eine spätere "Ausweisung" der Juden aus dem Reich; mit dem Diktatfrieden von Brest-Litowsk 1918 kam man diesen Zielen einer "völkischen Flurbereinigung" sogar kurzfristig sehr nahe.

Und wenn auch nicht alle Beteiligten alle Ziele gut fanden, 1914 schloss das Kaiserreich einen "Burgfrieden", die linke Opposition und die Gewerkschaften nahmen sich quasi selbst aus dem Spiel - und duldeten extreme Gewinne der Rüstungswirtschaft, die Ausbeutung der ungelernten Fabrikarbeiter, die nicht funktionierende Lebensmittelverteilung, den Schwarzmarkt und die damit verbundenen Hungerkrisen seit 1916.

Fast vier Jahre hielt dieser "Burgfrieden", Sozialdemokraten und Gewerkschaften hofften, sich dadurch vom Stigma der "vaterlandslosen Gesellen" freikaufen zu können.

Doch diese Hoffnung trog. Nicht nur, weil sich die Arbeiterbewegung an der Frage der Kriegskredite spaltete; aus der USPD ging der Spartakusbund und letztlich die KPD hervor, was sich in er Weimarer Zeit als schwere Hypothek erwies. Sondern auch, weil man spätestens, als im Herbst 1918 allen Entscheidungsträgern im Kaiserreich endgültig klar geworden war, dass der Krieg trotz aller Bemühungen an der Westfront verloren war, die Schuld dafür flugs den Kräften zuschob, die politische Änderungen anstrebten. Die Zivilisten sollten nun "die Suppe auslöffeln". Man übertreibt nur wenig, wenn man sagt, die Parlamentarisierung Deutschlands sei von der Obersten Heeresleitung angeordnet worden.

Die SPD-Führung baute keine republikanischen Streitkräfte auf - sondern setzte auf rechtsgerichtete "Freikorps"

Und die SPD tat, wie ihr geheißen, sie griff nicht nach der Macht, sondern hat die Revolution des Jahres 1918/19 - Parteichef Friedrich Ebert hasste sie ja "wie die Sünde" - eher abgewickelt als sie zu einer wirksamen Umgestaltung des gesamten Gesellschaftssystems genutzt. Gewiss, Kaiser und deutsche Fürsten wurden innerhalb von Stunden entmachtet, die Monarchie war in Deutschland für immer erledigt.

Aber die kriegsmüden Matrosen und Soldaten, die ausgebeuteten Munitionsarbeiter, die die Revolution ja letztlich getragen hatten, hätten sich viel mehr erwartet von den neuen "Machthabern".

Die führenden Köpfe der SPD bauten keine republikanischen Streitkräfte auf, sondern setzten auf rechtsgerichtete "Freikorps", um die gewalttätige Revolution zu Beginn des Jahres 1919 einzudämmen; sie veranlassten keine Bodenreform zur Entmachtung der ostelbischen Junker, sie verstaatlichten nicht die Montanindustrie zur Machtbeschneidung der "Kriegsgewinnler" unter den Industriellen - vielmehr schlossen sie einen Pakt mit allen alten Mächten, dem Adel, der Obersten Heeresleitung, den Industriellen und den Junkern.

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Kurzum, es gab kein großes Aufräumen, wie es bei Revolutionen allgemein üblich ist. Der Machtapparat des Kaiserreichs blieb unangetastet. Der Dank war gering: Nur ein Bruchteil dieser Machteliten entwickelte später einen demokratischen Geist.

Die SPD setzte auf Kontinuität und auf eine schnelle Wiederherstellung der Ordnung angesichts der Demütigung durch die Niederlage, angesichts der herrschenden Hungersnot und der grassierenden Grippeepidemie - und sie fürchtete Chaos bei der Demobilmachung oder gar eine Bolschewisierung Deutschlands; ob zu Recht oder nicht, sei dahingestellt. Als Gegenleistung erhielten die Sozialdemokraten ein neues Stigma aufgedrückt: das der "Novemberverbrecher", die dem deutschen Heer den "Dolch in den Rücken gestoßen" hätten.

Das war eine Lüge der alten und neuen Machteliten - doch die meisten Deutschen glaubten sie allzu gern. Viele Linke wiederum beschuldigten die SPD, die Revolution "verraten" zu haben. Über die möglichen Handlungsspielräume des Winters 1918/1919 ist viel geschrieben worden, doch festhalten lässt sich vor allem eins: dass die Kontinuität fortbestehender politischer und gesellschaftlicher Strukturen die Republik in den folgenden Jahren stark belastet hat.

Und die anfänglichen Hoffnungen und Träume der Republikaner wurden schnell enttäuscht. Die demokratischen Kräfte (SPD, DDP, Zentrum) regierten nach der Verabschiedung der Weimarer Reichsverfassung nur bis zur ersten Reichstagswahl 1920, danach waren stets die Republikfeinde in der Mehrheit.

Deutschland kam nicht zur Ruhe: Zu den politischen Angriffen von links und rechts kamen die Belastungen der Reparationen, die Hyperinflation - eine direkte Folge der Finanzierung des gesamten Krieges auf Pump - und die damit verbundene Deklassierung fast des gesamten Mittelstands, sowie die katastrophalen Folgen der Weltwirtschaftskrise. All diese Hypotheken, der Wunsch der Eliten nach Revision des Versailler Vertrages und nicht zuletzt der eklatante Mangel an Demokraten ermöglichten schließlich den Aufstieg der NSDAP und die Diktatur des früheren Gefreiten Adolf Hitler.

"Der Erste Weltkrieg hat Hitler erst möglich gemacht", schreibt der britische Historiker Ian Kershaw, "ohne das Trauma von Krieg, Niederlage und Revolution, ohne die Radikalisierung der deutschen Gesellschaft hätte dem Demagogen das Publikum für seine hasserfüllte Botschaft gefehlt. Das Vermächtnis des verlorenen Krieges schuf die Bedingungen, unter denen sich die Wege Hitlers und des deutschen Volkes zu kreuzen begannen."

Hitler wollte die Schmach der Revolution "ausmerzen"

Vierzehn Jahre später regierte der Mann, der sich geschworen hatte, die Schmach der Niederlage und der Revolution, die alles verraten hatte, "auszumerzen" und diejenigen "auszulöschen", die er für verantwortlich hielt.

Als man Stefan Zweig am 1. September 1939 vom deutschen Überfall auf Polen berichtete, brach seine Welt zusammen:

"Was ich mehr gefürchtet als den eigenen Tod, den Krieg aller gegen alle, nun war er entfesselt zum zweitenmal. (...) Ich erinnerte mich an unsere alten Soldaten, abgemüdet und zerlumpt, wie sie aus dem Felde gekommen, mein pochendes Herz fühlte den ganzen gewesenen Krieg in jenem, der heute begann und der sein Entsetzliches noch den Blicken verbarg. Und ich wusste: abermals war alles Vergangene vorüber, alles Geleistete zunichte - Europa, unsere Heimat, für die wir gelebt, weit über unser eigenes Leben hinaus, zerstört."

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