Süddeutsche Zeitung

Folgen des Arabischen Frühlings:Missverstandene Revolution

Armut, Instabilität, Völker ohne Staaten: Dem Nahen und Mittleren Osten droht anhaltendes Chaos. Derzeit leiden besonders die Syrer. Intervenieren will trotzdem niemand - aus Angst um Europa, aus Furcht um den Weltfrieden.

Ein Gastbeitrag von Joschka Fischer

Mehr als zwei Jahre ist es jetzt her, seit die große Umwälzung in der arabischen Welt begonnen hat. Von "Frühling" spricht heute aber niemand mehr angesichts des Bürgerkriegs in Syrien, des Durchmarschs des politischen Islams bei freien Wahlen, der sich immer weiter verschärfenden Demokratie- und Wirtschaftskrisen in Ägypten und Tunesien, der zunehmenden Instabilität im Irak, der Ungewissheit über die Zukunft Jordaniens und Libanons, und eines nach wie vor drohenden Krieges um das iranische Nuklearprogramm am Persischen Golf.

Zählt man dann noch die östliche und westliche Peripherie dieser weiten Region hinzu, Afghanistan und den Maghreb unter Einschluss der Sahelzone in der südlichen Sahara und Südsudans, dann verdüstert sich das Bild noch weiter. Libyen instabil, al-Qaida aktiv in der Sahelzone, wie zuletzt in Mali, und in Afghanistan schaut alle Welt mit Bangen auf den Abzug der USA und ihrer Nato-Verbündeten im Jahr 2014. Denn niemand weiß so recht, wie in den Monaten und Jahren danach die Folgen dieses Abzuges aussehen werden.

Was kommt nach der Revolution?

Es ist ein immer wiederkehrender Irrtum: Revolutionen werden zu ihrem Beginn als ein Sieg von Freiheit und Gerechtigkeit missverstanden, da sie die als ungerecht empfundene Herrschaft, ja Diktatur des alten Regimes umstürzen. Nur was kommt dann? In der Regel nichts Gutes, wie uns die Geschichte lehrt. Denn eine Revolution bedeutet nicht nur den Umsturz unterdrückerischer Herrschaft, sondern sie zerschlägt zugleich die alte Ordnung und eröffnet so einen meist brutalen, ja blutigen Machtkampf um die neue Herrschaft und die neue Ordnung. Und dieses Faktum gilt nicht nur für die Innenpolitik eines Landes, sondern auch für die außenpolitische Ordnung. Damit brechen in der Regel gefährliche Zeiten an.

Ausnahmen von dieser Regel sind dünn gesät: Südafrika ist eines dieser raren Beispiele, aber dort war es das Genie eines Jahrhundertstaatsmannes wie Nelson Mandela, das die Geschichte einen anderen Verlauf nehmen ließ. Die Alternative ist in Simbabwe zu besichtigen.

Osteuropa nach 1989? Dieses Beispiel trifft nicht und ist zugleich hochinteressant für die Analyse der arabischen Revolution. Denn in Osteuropa kam die neue innere und äußere Ordnung von außerhalb, bedingt durch die Frontstellung der ostmitteleuropäischen Länder im Kalten Krieg: Fast all diese Länder wollten nur eines, nämlich Demokratie, Freiheit, Marktwirtschaft und Sicherheit vor der Rückkehr des russischen Imperiums. Sie fanden dies alles im Westen, und folglich war und ist der Beitritt zu Nato und Europäischer Union für sie die richtige Antwort.

Nichts dergleichen gilt für den Krisengürtel des Nahen und Mittleren Ostens. Die Perspektive für diese Region ist daher düster. Denn es gibt keine Macht weit und breit, sei es innerhalb der Region oder von außen kommend, auch die USA nicht, die auch nur in Ansätzen die Vision einer neuen Ordnung für diese Region hätte oder wenigstens für Teile einer solchen Ordnung. Keine Macht, die bereit dazu und auch in der Lage wäre, diese durchzusetzen. Doch ohne eine neue regionale Ordnung droht dieser Region ein anhaltendes Chaos, was sehr große Risiken bedeutet und den Weltfrieden bedrohen wird.

In Syrien explodieren die Widersprüche

Ursachen dafür gibt es so viele: Armut, Rückständigkeit, Unterdrückung, hohes Bevölkerungswachstum, religiöser und ethnischer Hass, Völker ohne Staat wie die Kurden und Palästinenser, instabile Grenzen, die meist noch auf die europäischen Kolonialmächte Großbritannien und Frankreich in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg zurückgehen und - mit Ausnahme Irans und Ägyptens - nur über geringe Legitimität verfügen. Hinzu kommen regionale Großmachtambitionen, wie die Irans und Saudi-Arabiens oder neuerdings auch des kleinen, aber sehr reichen Katars, welche die Lage noch brisanter werden lassen. Und all diese Widersprüche explodieren gegenwärtig in Syrien.

Die Syrer durchleiden eine furchtbare humanitäre Katastrophe, aber niemand scheint bis jetzt bereit zu sein, dort zu intervenieren. Eine Ausnahme könnte dann eintreten, wenn die Sicherung der syrischen Chemiewaffen ein Eingreifen unabweisbar machen. Aber es wäre eine sachlich und zeitlich sehr begrenzte Intervention, die dennoch alle zu vermeiden versuchen.

Warum? Weil es in Syrien nicht nur um einen verheerenden Bürgerkrieg und unsägliches Leid geht, sondern um die Neuordnung des gesamten Nahen Ostens. Jede militärische Intervention dort wird nicht nur zu einer Auseinandersetzung mit dem syrischen Militär (unterstützt von Russland und China) führen, sondern auch unmittelbar in eine heiße Konfrontation mit der schiitisch-libanesischen Hisbollah und Iran. Das ist der regionale Anteil an der syrischen Tragödie. Und niemand vermag vorherzusehen, ob eine solche Intervention nicht innerhalb kürzester Zeit einen weiteren Nahostkrieg mit Israel auslösen würde. Das Risiko dafür ist sehr hoch.

Angesichts dieser explosiven Lage spricht vieles dafür, dass die menschliche Katastrophe so lange anhalten wird, bis das Regime Assads zusammenbrechen wird. In der Zeit danach droht dem Land die Aufspaltung entlang ethnischer und religiöser Grenzen. Die Desintegration Syriens als Folge des Bürgerkriegs könnte allerdings zu einer weiter gehenden Balkanisierung des Nahen Ostens führen, die große Gewaltpotenziale freisetzen würde. Denn kaum etwas ist gefährlicher als offene Grenzfragen. Libanon, Irak und Jordanien werden davon nicht unberührt bleiben, ebenso ist nur schwer zu beantworten, wie die Zukunft Libyens und Ägyptens aussieht.

Einer der Nachbarn heißt Europa

Was wird mit den Kurden und den Palästinensern geschehen? Was mit den Christen, Drusen und kleineren muslimischen Minderheiten? Und was mit Syriens Alawiten, denen ohne eine Aufspaltung des Landes ein grausames Schicksal droht? Fragen über Fragen, und vor allem mehr Fragen als Antworten! Gewiss darf man angesichts dieses Elends und der sich daraus ergebenden Risiken die Hoffnung auf diplomatische Lösungen niemals aufgeben, aber, realistisch betrachtet, werden deren kaum vorhandene Chancen mit jedem weiteren Tag noch geringer.

Der gesamte Nahe Osten hat sich unaufhaltsam in Bewegung gesetzt, und es wird wohl lange dauern, bis dort wieder eine neue stabile Ordnung entstanden sein wird. Bis dahin wird er eine wachsend gefährliche Region bleiben, nicht nur im Innern, sondern auch für seine Nachbarn und die Welt. Und einer dieser Nachbarn heißt Europa. Wir sollten das nicht vergessen.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.1610054
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 26.02.2013/soli/lala
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.