Süddeutsche Zeitung

Flutkatastrophe in Pakistan:Die globale Moral der Hilfe

Die internationle Gemeinschaft eilt den notleidenden Pakistanern zur Hilfe, um gegen Flut und Elend anzukämpfen - und um schneller zu sein als die Taliban. Von reiner Barmherzigkeit sind die Motive weit entfernt - und das ist gut so.

Andreas Zielcke

Ein grotesker Wettlauf ist im Gange. Die internationale Gemeinschaft eilt mit ihren Einsätzen den notleidenden Pakistanern zur Hilfe, um gegen Flut, Elend und Zerstörung anzukämpfen. Aber ebenso eifrig eilt sie herbei, um gegenüber den lokalen Hilfeleistungen der Taliban den Vorrang zu behalten.

Selten muss sich die Weltöffentlichkeit so offen eingestehen, dass ihr humanitäres Motiv von politischen Absichten durchdrungen ist. Von Kants Forderung nach absolut reiner moralischen Pflichterfüllung und Barmherzigkeit sind wir weit entfernt.

Und das ist gut so. Schon philosophisch lässt sich jede kategorische Ethik, die Selbstlosigkeit und Eigennützigkeit strikt trennen will, in Frage stellen. In jedem Fall aber wäre hier, da die Überschwemmungen nicht nur Pakistans Bevölkerung in fürchterlichem Ausmaß heimsuchen, sondern die ganze staatliche Struktur mit sich zu reißen drohen, eine puristische Moral ausgesprochen ignorant. Den pakistanischen Staat, überfordert und inkompetent, wie er ohnehin regiert wird, vollends in den Abgrund stürzen oder samt seinen Atomwaffen in die Hände der Taliban fallen zu lassen, würde der natürlichen Katastrophe die politische, um nicht zu sagen die geopolitische Katastrophe zur Seite stellen.

Und doch zeigt die Mixtur dieser Rettungsmotive, wie heute Nationen und Menschen weltweit füreinander einstehen - oder auch nicht einstehen. Wir sehen eine Momentaufnahme der globalen Zivilgesellschaft. Während beim Erdbeben in Haiti vor einem halben Jahr oder bei der Tsunamitragödie vor sechs Jahren weitgehender Einklang zwischen den staatlichen Hilfsmaßnahmen und den privaten Spenden und Initiativen herrschte, fallen diese beiden Ebenen bei Pakistan auffällig auseinander.

Nicht nur die Deutschen halten sich bei den Spenden für das überschwemmte Land zurück. Nach Auskunft eines karitativen Aktionsbündnisses wurde innerhalb desselben Zeitraums nach dem Eintritt der Katastrophe für Haiti spontan rund 50-mal so viel gespendet wie jetzt für Pakistan. Das ist kein Indiz für die Erschöpfung des humanitären Engagements, vielmehr dafür, dass man mit Pakistan in erster Linie Krieg, Terror und islamischen Radikalismus verbindet.

Ein Marshallplan genügt nicht mehr

Statt aus diesem verheerenden Bild des Staates zu schließen, dass man den Opfern erst recht unter die Arme greifen muss, um das Land aus dem Teufelskreis von Armut, Unfähigkeit und religiöser Rattenfängerei herauszuführen, kommt das böse politische Etikett dem Hilfsreflex in die Quere. "Hilfe", schimpft ein Blogger im Internet, "Hilfe, damit eine repressive islamische Gesellschaft weiter überleben kann? - Absurd!"

So kritikwürdig und kurzsichtig dieses Motiv ist, so problemlos fügt es sich ein in die prekäre internationale Verflechtung von Mentalitäten und Aktivitäten, die man inzwischen unter jenem Begriff der "globalen Zivilgesellschaft" zusammenfasst. Seitdem diese aktive Weltgesellschaft Gestalt anzunehmen begann, und das ist erst wenige Jahrzehnte her, hat sie stets moralisches Engagement und eigenwilligen politischen Oppositionsgeist miteinander verquickt.

Als nach dem Weltkrieg Westeuropa und vor allem Deutschland zerbombt und zerstört am Boden lagen, half ihnen Amerika mit dem genialen Marshallplan wieder auf die Beine. Auch damals spielten, zumal wegen des einsetzenden Kalten Krieges, neben humanitären Motiven geopolitische Ziele eine Rolle. Aber von einer zivilgesellschaftlichen Begleitung dieser regierungsoffiziellen Hilfe konnte damals noch kaum die Rede sein, allenfalls die Care-Pakete stehen dafür.

Für Pakistan ist zwar ebenfalls ein Marshallplan vonnöten, finanziert nicht nur von den USA, sondern von allen zahlungsfähigen Staaten. Wenn die geplante Geberkonferenz politisches Rückgrat besitzt, muss sie einen solchen Plan anstreben. Aber heute, zwei Generationen nach George Marshall, wird ein solches epochales Vorhaben, das auf nichts Geringeres als ein neues Nation-building Pakistans hinausläuft, nurmehr in dem Maße Erfolg haben, in dem es auch von der sich mitverantwortlich fühlenden zivilen Weltgesellschaft getragen wird.

Ohne grenzüberschreitende mediale Aufmerksamkeit, ohne teilnehmende öffentliche Moral und ohne politischen Druck von unten, ohne die Dynamik und Vielfalt privater Initiative fehlt nach heutigem Verständnis der pluralistische Treibstoff, der jedes Demokratieprojekt überhaupt erst voranbringt und nachhaltig macht. Ist dem aber so, dann ist man auch von den Eigensinnigkeiten der sich globalisierenden Bürgergesellschaft abhängig. Dass sie sich bei Pakistan mehr als nur "ziert", ist kein Zufall.

Denn die globale Zivilgesellschaft ist historisch noch ein unfertiges Wesen, geboren aus Widerstandsgeist und Protest, aus entgrenzter menschlicher Solidarität und aus politischer Ungeduld gegenüber einer mangelhaften, unbeherrschten, unregierten Welt. Es gibt keine Global Governance, keine organisierte weltweite praktische Vernunft, aber es gibt eine rohe wirtschaftliche Globalisierung, es gibt einen weltweiten Klimawandel, es gibt tausendfach Anlass, der nach weltweiter Reaktion verlangt - für die sich aber noch keine adäquaten internationalen Instanzen herausgebildet haben. Die globale Zivilgesellschaft vertritt diese moralische und politische Leerstelle.

Darum unterscheidet sie sich aber auch so sehr von den nationalen Zivilgesellschaften: Sie ist weniger aktiv als reaktiv, sie ist unkoordinierter und intuitiver, sie ist der Tendenz nach auf Opposition und Einspruch eingestellt, sie ist viel karitativer und sie ist in ihren politischen Motiven freier, aber auch rechtfertigungsfreier als ihre nationalen Pendants. Sie ist historisch die Avantgarde, die anarchisch-verantwortungswillig nach vorne drängt und den Erdball umfangen möchte, sie ist aber auch der stets hinterherhinkende besorgte Geist der Nothilfe und Reparatur.

Das alles schlägt sich nieder in dem bunten Spektrum vom Roten Kreuz über Amnesty International, Greenpeace, Ärzte ohne Grenzen, kirchliche Hilfswerke, freiwillige Entwicklungshelfer bis hin zu den Open-Society-Stiftungen eines George Soros und nicht zuletzt im universellen Agitationsforum des Internets und allen anderen privatbetriebenen Medien.

Das schlägt sich aber eben auch darin nieder, wie jetzt bei Pakistan, dass für sich genommen legitime politische Gründe wie die Bekämpfung des Islamismus unreflektiert über das humanitäre Gewissen, ja selbst über längerfristige politische Klugheit obsiegen. Die globale Zivilgesellschaft ist kein kontrollierter Diskurs, sondern ein Spontanprozess.

Die Tiefen und Höhen ihrer Spendenaktivität lassen sich als Seismograph ihrer moralischen und politischen Souveränität interpretieren. Hier liegt dann auch der Gedankenfehler von Denkern wie Sloterdijk, welche die Steuerpflicht durch freiwillige Spenden ersetzen möchten. Für Nationalstaaten ist der Gedanke einfältig, Sinn ergibt er nur für die globale Zivilgesellschaft: Hier ersetzen Spenden die nicht-existenten Weltsteuern.

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Quelle:
SZ vom 21.08.2010/aho
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