Flüchtlingsunglück vor Lampedusa:"Tag der Tränen"

Body bags containing African migrants, who drowned trying to reach Italian shores, lie in a hangar of the Lampedusa airport

Mehr als 100 Tote und 200 Vermisste: In einer Halle auf Lampedusa liegen die bisher geborgenen Leichen

(Foto: Reuters)

Hunderte Flüchtlinge werden noch vermisst. Die Suche nach möglichen Überlebenden des Untergangs eines völlig überfüllten Bootes vor der italienischen Küste geht weiter - doch die Rettungskräfte haben die Hoffnung aufgegeben. Europäische Politiker fordern ein Umdenken in der Flüchtlingspolitik. Papst Franziskus findet deutliche Worte.

"Es ist ein Horror", sagt die Bürgermeisterin Giusi Nicolini, "sie hören nicht auf, weitere Leichen zu bringen." Die italienische Mittelmeerinsel Lampedusa steht nach dem Flüchtlingsdrama mit vermutlich Hunderten Toten unter Schock. Mehr als 130 afrikanische Flüchtlinge haben Rettungskräfte bislang tot geborgen. Die Zahl der Opfer könnte weiter steigen, da zahlreiche Menschen noch im Mittelmeer vermisst wurden, wie italienische Medien berichten. Bis zu 220 Bootsinsassen wurden am späten Donnerstag noch vermisst. Ein Sprecher der Küstenwache sagte, man habe die Hoffnung, noch Überlebende zu finden, nahezu aufgegeben. Die Schiffbrüchigen seien seit dem frühen Morgen im Wasser.

Nach dem Schiffsunglück am Donnerstag zeigten bewegende Fernsehbilder, wie Rettungsteams in dem kleinen Hafen von Lampedusa eingehüllte Leichen nebeneinander aufbahrten. "Unglücklicherweise brauchen wir keine Krankenwagen mehr, sondern Särge", berichtete der örtliche Arzt Pietro Bartolo.

Politiker fordern Umdenken

Die italienische Politik reagierte geschockt auf das Flüchtlingsdrama. Staatspräsident Giorgio Napolitano forderte eine Überprüfung der Gesetzeslage. Normen, die eine Aufnahmepolitik verhinderten, sollten geändert werden, sagte er nach Angaben der italienischen Nachrichtenagentur Ansa in einem Interview mit Radio Vatikan. Die Gesetze müssten Italien würdig sein und den Grundprinzipien von Menschlichkeit und Solidarität entsprechen. Die Staatsanwaltschaft eröffnete ein Ermittlungsverfahren, einer der mutmaßlichen Schleuser wurde Medienberichten zufolge bereits festgenommen.

Innenminister Angelino Alfano reiste nach einem Treffen mit Regierungschef Enrico Letta nach Lampedusa, um sich selbst ein Bild von der Lage zu machen. Letta bezeichnete den Tod der Migranten als "ungeheure Katastrophe". "Eine enorme Tragödie, für die es keine Worte gibt", sagte Vize-Innenminister Filippo Bubbico. Die Minister von Alfanos PdL-Partei sagten eine geplante Pressekonferenz ab. Für Freitag wurde in Italien Staatstrauer angeordnet.

Mit Bestürzung reagierte die EU-Kommission auf das tödliche Drama. "Es ist wirklich eine Tragödie, ganz besonders, weil auch Kinder betroffen sind", erklärte EU-Regionalkommissar Johannes Hahn in Brüssel. "Es ist etwas, über das Europa wirklich traurig sein muss und wir sollten sehen, wie wir die Lage verbessern", sagte er.

EU-Innenkommissarin Cecilia Malmström forderte die Mitgliedstaaten über den Kurznachrichtendienst Twitter auf, "die Anstrengungen im Kampf gegen Schleuser, die menschliche Hoffnungslosigkeit ausbeuten, zu verdoppeln". Sie wolle das Thema auf einem Treffen der EU-Innenminister am kommenden Donnerstag diskutieren und sich außerdem persönlich ein Bild von der Lage auf Lampedusa machen, kündigte sie an. Der UN-Flüchtlingsbeauftragte António Guterres erklärte, er sei "schockiert" über die steigende Zahl von Flüchtlingen, die im Meer ihr Leben verlören.

Wegen des guten Wetters versuchen zurzeit besonders viele Menschen aus Afrika, in kaum seetauglichen Booten Europa zu erreichen. Insgesamt wurden seit Jahresbeginn in Italien mehr als 22.000 Bootsflüchtlinge gezählt - dreimal mehr als im gesamten Jahr 2012.

Papst Franziskus spricht von "Schande"

Papst Franziskus bezeichnete die erneute Flüchtlingstragödie als "Schande". "Beten wir für die Opfer des tragischen Schiffbruchs vor Lampedusa", schrieb er auf Twitter. Der Papst hatte Lampedusa vor zwei Monaten besucht und auf das Schicksal der Flüchtlinge als Folge einer "Globalisierung der Gleichgültigkeit" aufmerksam gemacht. Er sprach von einem "Tag der Tränen".

Bundespräsident Joachim Gauck hat sich für den besonderen Schutz von Flüchtlingen ausgesprochen: "Wegzuschauen und sie hineinsegeln zu lassen in einen vorhersehbaren Tod, missachtet unsere europäischen Werte", so Gauck.

Das Boot mit etwa 500 Menschen aus Nordafrika an Bord hatte im Mittelmeer auf Höhe des Lampedusa vorgelagerten Eilands Isola dei Conigli Feuer gefangen und war dann gekentert. Berichten zufolge hatte das Boot etwa einen Kilometer vor der Küste eine Panne. Einige Migranten auf dem Schiff entzündeten daraufhin eine Decke, um ein Fischerboot in der Nähe auf sich aufmerksam zu machen. Das Feuer breitete sich jedoch schnell aus, das Schiff kenterte.

Dem tunesischen Innenministerium zufolge war das Boot in Libyen aufgebrochen und auf seinem Weg nach Lampedusa an der tunesischen Hafenstadt Sfax vorbeigefahren. Die Flüchtlinge sollen überwiegend aus Somalia und Eritrea stammen. Sie waren nach Angaben von Geretteten vor zwei Tagen in der libyschen Hafenstadt Misrata gestartet.

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