Flüchtlingsstrom übers Mittelmeer:Ein Meer wie ein Monster

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Rund 800 nordafrikanische Flüchtlinge haben es vorerst geschafft: Sie sitzen am 11. April nach ihrer Rettung an Bord eines Schiffes der italienischen Küstenwache (Foto: dpa)

Für viele Afrikaner ist das Mittelmeer im besten Fall ein Hindernis, im schlimmsten Fall ein Grab. Italien fühlt sich vom Flüchtlingsstrom überfordert, in der EU ist das Thema so umstritten wie kaum ein zweites. Dabei ließe sich das Dilemma mit einem Blick in die eigene Geschichte auflösen.

Ein Kommentar von Stefan Ulrich

Die alten Römer nannten das Mittelmeer Mare Nostrum. Unser Meer. Darin drückte sich ihr Herrschaftsanspruch über die Küsten dieser Binnensee aus, und ihre Vertrautheit mit einem - im Vergleich zu den Ozeanen - sanften Gewässer. Bis heute ruft das Mittelmeer bei vielen Europäern Wohlfühl-Assoziationen hervor: Wiege griechischer Kultur und römischer Staatskunst, Marktplatz der Völker, Ölbaum, Weinrebe und das Flair mediterraner Lebensart.

Für viele andere ist das Mittelmeer im besten Fall ein Hindernis, im schlimmsten ein Grab. Die Menschen, die sich an den Küsten Nordafrikas Seelenverkäufern anvertrauen, um Richtung Europa zu schippern, erleben kein Mare Nostrum, sondern ein Mare Monstrum. Schätzungsweise 20 000 Bootsflüchtlinge soll dieses Ungeheuer in den vergangenen 20 Jahren verschlungen haben - und Monat für Monat werden es mehr.

Italien fühlt sich überfordert

Immerhin: Die Havarie eines Schiffchens im Oktober vor der Insel Lampedusa, bei der mehr als 350 Kinder, Frauen und Männer ertranken, hat Europa und insbesondere Italien aufgeschreckt. Seither wird den Verzweifelten auf hoher See mehr geholfen als bisher. "Mare Nostrum" nennen die Italiener ihre Mission, bei der es darum geht, Flüchtlingsströme zu kontrollieren und Flüchtlinge zu retten. Die Wahl des Namens zeigt, dass die Regierung in Rom Mitverantwortung übernehmen will, für das, was auf dem Mittelmeer geschieht.

Allerdings fühlt sich Italien bei seinem Einsatz überfordert - und ziemlich alleingelassen. Die Regierung warnt, allein in Libyen warteten bis zu 600 000 Menschen darauf, in See zu stechen. So viele Notleidende kann Italien weder retten noch aufnehmen. Rom drängt daher darauf, dass die ganze EU das Mittelmeer als Mare Nostrum begreift und das Flüchtlingsproblem gemeinsam löst.

So berechtigt diese Forderung ist, so schwierig ist es sie einzulösen. Der Umgang mit Menschen, die sich nach Europa flüchten wollen, gehört zu den strittigsten Themen in der EU. Zwei radikale Konzepte werden angeboten: Festung oder freie Fahrt. Die Festungsbauer sagen, Europa könne nicht alle Not der Welt lindern und unbegrenzt Menschen aufnehmen. Andernfalls krachten die Sozialsysteme zusammen und die verschreckten Bürger wendeten sich extremistischen Parteien zu. Europa müsse höhere Mauern bauen, um sich vor Überforderung zu schützen.

Nur: Das alles hat Europa schon versucht. Ein Ergebnis sind die Ertrunkenen von Lampedusa. Die Europäer können jedoch nicht einfach dabei zusehen, wie Menschen vor ihren Toren erbärmlich zugrunde gehen, weil sie sonst zu Zynikern werden, die ihrer eigenen Werte spotten.

Deswegen argumentieren die Anhänger der freien Fahrt, die EU müsse sichere Routen für alle nach Europa schaffen, damit Flüchtlinge nicht Menschenhändlern, korrupten Beamten in Chaosstaaten und den Launen des Meeres ausgeliefert sind. Das klingt sympathisch und human.

Doch wie viele Afrikaner, Araber und Zentralasiaten würden sich wohl ermuntert fühlen, nach Europa aufzubrechen, wenn sie wüssten, dass ihnen sichere Reisewege von der EU garantiert oder sogar Fähren bereitgestellt werden. Millionen? Abermillionen? Niemand kann das voraussagen, auch weil Menschen nicht mutwillig ihre Heimat verlassen, sondern nur aus sehr starken Gründen. Die Gefahr ist jedoch groß, dass das Modell freie Fahrt die Verwerfungen schafft, vor der die Festungsbauer warnen.

Europäische Flüchtlinge

Ein Dilemma? Tatsächlich lässt sich die Flüchtlingsfrage mittelfristig nicht befriedigend beantworten. Forderungen, die Lebensumstände in Afrika zu verbessern, für fairen Handel zu sorgen, Flüchtlinge nahe ihrer Heimat menschenwürdig unterzubringen, scharf gegen Schlepper vorzugehen und Migrationsquoten einzuführen, sind zwar vernünftig, jedoch nur langfristig umzusetzen. Die Menschen fahren aber jetzt los. Heute. Morgen. Was sollen da die Europäer tun?

Sie sollten sich an Zeiten erinnern, in denen Millionen von ihnen - Deutsche, Italiener und Iren etwa - vor Hunger und Unterdrückung in andere Länder flohen. Sie erwarteten und erhielten dort oft eine menschenwürdige Aufnahme. Genau das müssen die Europäer nun auch jenen Menschen gewähren, die auf taumelnden Booten ihren Küsten entgegenfiebern. Die Lasten, die das mit sich bringt, müssen dabei künftig gerechter unter allen EU-Staaten verteilt werden, nach Einwohnerzahl und Wirtschaftskraft.

Gewiss: Schon diese, humanitäre Lösung wird weitere Flüchtlinge anspornen, sich auf die Reise nach Norden zu machen. Doch das müssen die Europäer akzeptieren, wenn sie ihre Seele nicht dem Mare Monstrum opfern wollen.

© SZ vom 11.04.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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