Süddeutsche Zeitung

Flüchtlingswelle auf Lampedusa:Tunesien wehrt sich gegen Italiens Offerte

Angesichts des gigantischen Ansturms von Flüchtlingen aus Tunesien ruft Italien den humanitären Notstand aus - und will Polizisten nach Tunesien entsenden. In Tunis ist man von dem Vorschlag alles andere als begeistert.

In den vergangenen fünf Tagen erreichten knapp 5000 Bootsflüchtlinge aus Tunesien die italienische Mittelmeerinsel Lampedusa, südlich von Sizilien. Allein in der Nacht auf Sonntag kamen fast 1100 Menschen an. Ein Ende der Flüchtlingswelle ist nicht abzusehen: Am Montagmorgen wurde erneut ein erstes Flüchtlingsboot gesichtet, berichten italienische Medien.

Der massive Flüchtlingsstrom sorgt nun für Streit zwischen Italien und Tunesien. Die tunesische Regierung wies den Vorschlag Italiens zurück, Soldaten in das nordafrikanische Land zu entsenden, um den Flüchtlingsstrom einzudämmen. Der Sprecher der tunesischen Regierung, Taïeb Baccouche, sagte dem Fernsehsender al-Arabija, der italienische Vorschlag sei "inakzeptabel". "Das tunesische Volk lehnt die Stationierung ausländischer Soldaten auf seinem Gebiet ab", sagte er und fügte hinzu, die Kontrolle der eigenen Küsten liege bei den tunesischen Behörden.

In Tunesien führte die Protestbewegung vor einem Monat zu einer friedlichen Revolution und zum Sturz von Präsident Zine El Abidine Ben-Ali. Allerdings sind die Probleme des Landes damit nicht gelöst: Die Übergangsregierung von Interims-Regierungschef Mohamed Ghannouchi gibt ein schwaches Bild ab. Der Flüchtlingsstrom aus dem nordafrikanischen Land zeigt, wie drängend Arbeits- und Perspektivlosigkeit sind. Vielerorts herrscht Chaos und Armut.

"Für uns ist es unmöglich geworden, in Tunesien zu leben", zitierten italienische Medien nach Lampedusa geflohene Frauen. Raubüberfälle und Gewalt seien an der Tagesordnung, niemand wisse, wer das Sagen habe. "Ich habe keine Arbeit und keine Möglichkeit zu überleben", brachte ein junger Tunesier auf den Punkt, was für viele seiner Leidensgenossen ein Fluchtgrund gewesen sein mag.

Angesichts der vielen Bootsflüchtlinge stockte Tunesien seine Küstenwache personell auf. "Verstärkung wurde geschickt", hieß es am Sonntagabend aus Regierungskreisen in der Hauptstadt Tunis. Die Küstenwache arbeite "Tag und Nacht, um diesen Strom zu stoppen" und habe viele Menschen beim Versuch der Grenzüberquerung festgenommen. Nähere Angaben zur Art und Zahl der Verstärkung wurden nicht gemacht. Tunesien erlebe "eine außergewöhnliche Phase", zugleich sei das Problem der Bootsflüchtlinge mit Ziel Italien jedoch nicht neu, hieß es.

Die Flüchtlinge kommen zum Großteil aus Häfen an der Grenze zu Libyen. Italien bekommt nun die Folgen der Revolution zu spüren: Denn aufgrund der Wirren nach der Revolte gebe es an den Häfen kaum Kontrollen.

Die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton wollte das Thema an diesem Montag bei einem Besuch in Tunesien ansprechen. Deutschlands Außenminister Guido Westerwelle (FDP) kündigte an, die Europäische Union werde die Lage analysieren und über Maßnahmen entscheiden. Der Vizekanzler appellierte im Deutschlandfunk an die Menschen in Tunesien, in ihrer Heimat zu bleiben, den demokratischen Wandel zu unterstützen und sich am wirtschaftlichen Aufbau zu beteiligen.

Luftbrücke eingerichtet

Bereits am Vortag war für Lampedusa der humanitäre Notstand ausgerufen und eine Luftbrücke eingerichtet worden. Mindestens 230 Menschen wurden am Sonntag mit Flugzeugen und Fähren nach Sizilien und aufs italienische Festland gebracht, wo sie auf andere Lager verteilt wurden, wie italienische Medien berichteten. Die Situation blieb dennoch dramatisch. Nach Angaben von diesem Montag befänden sich zurzeit noch 2150 Menschen im Flüchtlingszentrum. Offiziell kann das Lager 800 Menschen aufnehmen.

Italiens rechtspopulistischer Innenminister Roberto Maroni hatte am Wochenende auf massiven Druck hin der Öffnung des Erstaufnahmelagers auf Lampedusa zugestimmt. Rom hatte die Wiedereröffnung eines großen Lagers auf Lampedusa zunächst abgelehnt, um die Flüchtlinge "nicht zusätzlich zu ermutigen".

Die Lager waren vor etwa einem Jahr geschlossen worden, da wegen der umstrittenen Flüchtlingspolitik der italienischen Regierung kaum noch Menschen auf Lampedusa eintrafen. Innenminister Roberto Maroni hatte am Freitag davor gewarnt, aufgrund der fehlenden Kontrollen von tunesischer Seite könnten sich Terroristen unter die Immigranten mischen.

Außenminister Franco Frattini forderte von der EU rasche Maßnahmen zur Bewältigung des Flüchtlingsstroms und wollte mit der neuen Regierung in Tunis über eine Lösung sprechen. Er wollte sich diesen Montag außerdem mit dem tunesischen Ministerpräsidenten Ghannouchi treffen.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.1059442
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
sueddeutsche.de/dpa/AFP/berr
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.