Italien:Sie könnten noch leben

Lesezeit: 2 Min.

Mehr als die Hälfte der Passagiere starb. Es dauerte viele Tage, bis alle Opfer aus dem Meer geborgen waren, lange war der Strand von Cutro übersät mit hölzernen Schiffstrümmern. (Foto: Luigi Navarra/AP)

In der Nacht auf den 26. Februar 2023 zerschellte ein Flüchtlingsboot vor Cutro in Kalabrien. Mindestens 98 Menschen kamen ums Leben. Jetzt legt die Staatsanwaltschaft ihre Ermittlungsergebnisse vor.

Von Andrea Bachstein

Die Katastrophe wäre vermeidbar gewesen, mindestens 98 Menschen könnten noch leben – diesen Schluss zieht die Staatsanwaltschaft im kalabrischen Crotone aus ihren umfangreichen Ermittlungen zum tragischen Untergang eines Schiffs voller Flüchtlinge in der Bucht von Cutro. Das bei Çeşme in der Türkei aufgebrochene, überladene, heruntergekommene Holzschiff Summer Love zerbarst in den ersten Morgenstunden des 26. Februar 2023 in Ufernähe vor dem Städtchen Steccato di Cutro. Der Verdacht, dass die Tragödie hätte verhindert werden können, kam bald auf.

Denn die Behörden hatten das Schiff auf seiner heimlichen Fahrt in der Nacht längst entdeckt. Ein Aufklärungsflugzeug der EU-Grenzschutzagentur Frontex hatte die Summer Love gefilmt, die Guardia di Finanza, die Küstenwache und die Rettungsleitzentrale waren informiert, dass sich ein mutmaßliches Schleuserschiff mit vielen Menschen der Küste Kalabriens näherte.

Warum begann der Rettungseinsatz erst, als das Unglück schon passiert war?

Nun will die Staatsanwaltschaft insgesamt sechs Angehörige der Guardia di Finanza und der Küstenwache anklagen wegen mehrfachen Totschlags und fahrlässigen Verursachens eines Schiffbruchs. Wie zuerst der Corriere della Sera berichtete, schlossen die Staatsanwälte in Crotone am Dienstag ihre Ermittlungen nach 17 Monaten ab. Die Ermittler hatten um mehr Zeit gebeten, weil die Untersuchungen so komplex waren. Die Akten umfassen einige Tausend Seiten, darunter Gutachten dazu, wie sich die Summer Love unter den Wetterbedingungen bewegte.

Zu klären war vor allem, wo Lücken, wo Fehleinschätzungen lagen in den Informations- und Befehlsketten zwischen der Frontex-Zentrale in Warschau, der Leitstelle in Rom und Posten von Finanzpolizei und Küstenwache in Kalabrien. Warum begann trotz sich verschlechternder See- und Wetterbedingungen ein Rettungseinsatz erst, als das Unglück schon passiert war? 35 Kinder waren unter den 98 Toten, die man gefunden hat, etwa ein Dutzend Menschen sind noch immer vermisst, also wahrscheinlich auch tot, 81 überlebten.

In den Ermittlungen zur Rolle der Behörden werfen die Staatsanwälte vier Angehörigen der Guardia di Finanza vor, falsch gehandelt, und zwei Offizieren der Küstenwache, nicht gehandelt zu haben. Die Staatsanwälte schrieben laut Corriere in ihrem Bericht: „Alle ohne Unterschied hatten die vorrangige, grundlegende und unausweichliche Pflicht, auf dem Meer Leben zu schützen, auch mit Blick auf unvorsichtiges, fahrlässiges und unerfahrenes Verhalten von Schleppern, sowie zum Schutz der öffentlichen Ordnung.“

Italiens Regierung zog ganz eigene Schlüsse aus dem Untergang der „Summer Love“

Ein Prozess soll klären, sind, warum die Finanzpolizisten dabei blieben, die Summer Love nur als Fall zur Kontrolle zu behandeln, selbst als zwei ihrer Boote die Fahrt zu dem verdächtigen Schiff abbrachen wegen des schweren Wetters. Bedingungen, die nahelegten, dass der Summer Love Gefahr drohte. Warum alarmierten sie nicht die Küstenwache, die über geeignete Schiffe verfügt, damit die einen Rettungseinsatz starten würde? Wieso prüften die zwei Offiziere der Küstenwache nicht von sich aus, ob eine Rettungsaktion nötig wäre angesichts bis zu vier Meter hoher Wellen, Böen der Stärke 7 und der Vorhersage weiterer Verschlechterung?

„Wenn das Meer es zulässt“, würden sie eingreifen, teilten die Finanzpolizisten mit, nach Ansicht der Staatsanwaltschaft hätte dies die Küstenwache zum Eingreifen veranlassen müssen. Und wieso sagte der Wachhabende der Finanzpolizei in Vibo Valentia der Küstenwache, auf die Summer Love warte zwei, drei Seemeilen vor der Küste eines ihrer Schiffe, während dieses zum Tanken in den Hafen fuhr?

Die 181 Frauen, Männer, Kinder vor allem aus Afghanistan, Pakistan und Syrien auf der Summer Love wurden ins aufgewühlte Wasser geschleudert, als das Schiff im Dunkeln etwa um 4.15 Uhr an jenem 26. Februar auf eine Sandbank prallte. Mehr als die Hälfte überlebte nicht, darunter der Kapitän der Summer Love. Mehrere zu den Schleusern zählende Crewmitglieder sind bereits zu teils langen Haftstrafen verurteilt. Es dauerte viele Tage, bis die Opfer aus dem Meer geborgen waren, lange war der Strand von Cutro übersät mit hölzernen Schiffstrümmern. Italiens Rechtsregierung erließ nach der Tragödie die „Cutro“-Gesetze mit höheren Strafen für Schleuser – und Auflagen, die Einsätze von Seenotrettungsorganisationen behindern.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

SZ PlusGriechenland
:„Ich will, dass das aufhört“

Etwa 750 Menschen waren an Bord, als vor einem Jahr der Fischkutter „Adriana“ vor der Hafenstadt Pylos sank. Nur 104 überlebten. Einige leben heute in Deutschland, kämpfen mit ihrem Trauma – und verklagen die griechische Küstenwache.

Von Dunja Ramadan, Tobias Zick

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: