Süddeutsche Zeitung

Flüchtlingspolitik:Was die Pläne von CDU und CSU in der Praxis bedeuten würden

  • CDU und CSU haben sich auf einen Kompromiss in der Flüchtlingspolitik geeinigt.
  • Teil der Einigung ist unter anderem eine Zielmarke von nicht mehr als 200 000 Flüchtlingen pro Jahr.
  • Außerdem wolle man sogenannte Entscheidungs- und Rückführungszentren für Flüchtlinge einrichten und den Familiennachzug weiterhin einschränken.

Von Bernd Kastner

Alles ist gut, jetzt schon. Diese Einschätzung drängt sich auf, wenn man die zentrale Zahl aus dem Asylkompromiss vom Sonntag liest: 200 000 zusätzliche Flüchtlinge soll Deutschland maximal pro Jahr aufnehmen. Diese Zahl wird längst nicht erreicht in diesem Jahr, es wäre noch viel Luft nach oben. Alles im grünen Bereich also? Mitnichten. Die Vor-Einigung von CDU und CSU vor Beginn der eigentlichen Jamaika-Koalitionsgespräche wirft viele neue Fragen auf.

Die "Obergrenze" von 200 000

Die "Obergrenze" von 200 000 Die so heftig diskutierte "Obergrenze" heißt nun auf Betreiben von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) zwar nicht mehr Obergrenze, aber die von Horst Seehofer (CSU) vor Langem gesetzte Zahl hat den Kompromiss-Abend überstanden: 200 000. So viele Flüchtlinge soll Deutschland pro Jahr maximal aufnehmen - netto, wohlgemerkt.

Die Rechnung geht so: neue Asylbewerber plus Familiennachzügler plus Kontingentflüchtlinge minus freiwillige Rückkehrer minus Abgeschobene ist gleich 200 000. Maximal.

Rechnet man das Jahr 2017 nach dieser Unions-Formel durch, kommt raus: Deutschland könnte gemäß der Merkel-Seehofer-Formel noch viel mehr Menschen Schutz bieten. Das ganze Jahr über kommen pro Monat etwa 15 000 Flüchtlinge neu an, das macht hochgerechnet etwa 180 000 Neuzugänge. Dazu kommt eine vierstellige Zahl von Kontingentflüchtlingen (Relocation und Resettlement), die vor allem aus Griechenland, Italien und der Türkei übernommen werden. Großzügig gerechnet sind das also etwa 200 000.

Davon abzuziehen sind jene, die freiwillig ausreisen (in den ersten acht Monaten 22 600), und die Abgeschobenen (12 500 im ersten Halbjahr); hochgerechnet muss man also etwa 60 000 abziehen. Die Zahl der freiwillig Ausgereisten ist in Wirklichkeit noch höher: Wer Deutschland verlässt, ohne sich abzumelden oder einen Zuschuss zu beantragen, findet sich in keiner Statistik.

Ob die von der Union gewünschte Begrenzung einen Zuzug wie im Jahr 2015 verhindern würde, ist indes völlig unklar. Käme es erneut zu einem Großandrang, sollen Bundesregierung und Bundestag geeignete Maßnahmen beschließen, heißt es im Unions-Papier. Kanzlerin Merkel jedenfalls betont, dass das Grundrecht auf Asyl nicht angetastet werde. Praktisch jeder Neuangekommene stellt einen Asylantrag, der geprüft werden muss. Diese Menschen dürfen also auch künftig einreisen.

Ausdrücklich nicht in die 200 000 reingerechnet werden EU-Bürger und zugewanderte Arbeitskräfte. Ihr Zuzug soll in einem Zuwanderungsgesetz geregelt werden, so will man dem Fachkräftemangel begegnen.

Entscheidungs- und Rückführungszentren

Entscheidungs- und Rückführungszentren An den deutschen Grenzen wird sich für Flüchtlinge also wohl nichts ändern: Wer rein will, muss angeben, dass er in Deutschland Asyl begehrt; er muss das direkt an der Grenze tun oder im Land, bei der Polizei etwa. Ändern soll sich aber anschließend einiges, wenn es nach der Union geht. Alle Flüchtlinge sollen in sogenannten Entscheidungs- und Rückführungszentren leben, bis ihr Verfahren abgeschlossen ist. Bis sie also die Lizenz zum Bleiben haben oder heimgeschickt oder abgeschoben werden. Das klingt zunächst gut und sinnvoll, so würde vermieden, dass man Neuangekommene übers Land verteilt, ihnen zunächst Hoffnung auf ein Bleiberecht macht, und nach einigen Monaten sagt: Sorry, ihr müsst doch zurück.

Allein, das Konzept dürfte in der Praxis nur schwer zu realisieren sein. Man müsste viele Zehntausend Plätze in solchen Zentren schaffen. In den drei immer wieder genannten Vorzeigeeinrichtungen in Heidelberg, Bamberg und Manching bei Ingolstadt gibt es zusammen gerade einmal eine Kapazität von 9000 Plätzen. In Heidelberg etwa werden alle Baden-Württemberg zugeteilten Flüchtlinge registriert, untersucht und stellen dort ihren Antrag, dann aber werden sie übers Land in Erstaufnahmeeinrichtungen verteilt. Künftig würden laut Unions-Idee Flüchtlinge in solchen Zentren bis zum endgültigen Abschluss ihres Verfahrens wohnen. Das kann, inklusive Gerichtsverfahren, bei schwierigen Fällen viele Monate, womöglich ein paar Jahre dauern.

Rund um solche Großunterkünfte mit mehreren Tausend Bewohnern müssten entsprechende Schul- und Kindergartenkapazitäten geschaffen werden. Von den Konflikten, die in solchen Massenunterkünften automatisch entstehen, auch mit der Nachbarschaft, ganz zu schweigen. Die beiden bayerischen "Vorzeigezentren" stehen zudem seit Langem in der Kritik: Asylhelfer beklagen sich über den sehr eingeschränkten Zugang zu den Flüchtlingen, die so keine adäquate Asylberatung bekämen. Das kritisieren der Bayerische Flüchtlingsrat ebenso wie kirchennahe Helferkreise, jüngst etwa der ökumenische Verein Matteo, der diese Heime "Lager" nennt. Pro Asyl spricht von "Kasernierung" und drohender Stigmatisierung.

Ausgesetzter Familiennachzug

Ausgesetzter Familiennachzug Im Rahmen des sogenannten Asylpakets II wurde im März 2016 der Familiennachzug zu Flüchtlingen mit subsidiärem Schutz für zwei Jahre ausgesetzt. Die Union will diese Regelung nun über den März 2018 hinaus verlängern. Betroffen sind hiervon vor allem Flüchtlinge aus Syrien. Wurde bis Frühjahr 2016 fast allen Syrern noch Flüchtlingsschutz zuerkannt, erhalten derzeit fast zwei Drittel nur subsidiären Schutz, der für ein Jahr gilt. Für sie ist ein legales Nachholen von engen Angehörigen (Kinder, Eltern, Ehepartner) nur noch in Härtefällen möglich, die bürokratischen Hürden dafür sind sehr hoch.

Wie viele potenzielle Nachzügler so abgehalten werden, ist seriös nicht vorherzusagen. Sicher dürfte nur sein, dass die im vergangenen Jahr diskutierte Zahl von Millionen möglicher Nachzügler deutlich zu hoch ist.

Der ausgesetzte Familiennachzug ist politisch und juristisch heftig umstritten. Zahlreiche Menschenrechtler und Juristen sehen im neuen Absatz im Aufenthaltsgesetz (Paragraf 104, Absatz 13) einen Verstoß gegen das Grundgesetz, die Europäische Menschenrechtskonvention und die Kinderrechtskonvention; dort ist jeweils der besondere Schutz der Familie festgeschrieben. Eine höchstrichterliche Entscheidung dazu gibt es aber noch nicht.

Gerade die Kirchen kritisieren den verhinderten Familiennachzug. Sie und Flüchtlingsorganisationen verweisen auf die erschwerte Integration: Wer zwar in Deutschland in Sicherheit ist, sich aber Sorgen um Partner und Kinder in der Heimat machen muss, vor allem in Syrien, könne sich kaum auf die nötige Integration und das Deutschlernen konzentrieren.

Grenzschutz und Abkommen

Grenzschutz und Abkommen Der sogenannte EU-Türkei-Pakt vom Frühjahr 2016 wird von der Bundesregierung als Erfolgsmodell präsentiert: Seither erreichen deutlich weniger Flüchtlinge die griechischen Inseln, seither ertrinken weniger Menschen in der Ägäis. Dieses Modell will die Union ausweiten. Dafür wären Deals mit Ländern wie Libyen nötig, was von Menschenrechtlern und Asylhelfern heftig kritisiert wird: In den Flüchtlingslagern dort herrschen katastrophale Zustände, die offizielle libysche Regierung kontrolliert nur Teile des Landes.

Würde man die Asylverfahren von Neuankömmlingen gleich an den EU-Außengrenzen durchführen, müssten jetzt schon überforderte Länder wie Italien oder Griechenland noch mehr Lasten übernehmen. Aus Bulgarien wird zudem immer wieder berichtet, dass Flüchtlinge misshandelt oder illegal über die Grenze aus der EU herausgebracht würden.

Und nach welchen europäischen Regeln soll entschieden werden? In der von Merkel und Seehofer angesprochen Reform diverser europäischer Regelungen sieht Pro Asyl-Chef Günter Burkhardt einen "Angriff auf den Zugang zum individuellen Asylrecht". Es seien "Schnellverfahren" geplant, die rechtsstaatlich "mehr als fragwürdig" seien. Es stünden dann nicht mehr die Fluchtgründe, sondern der Reiseweg eines Flüchtlings im Vordergrund.

Sichere Herkunftsstaaten

Sichere Herkunftsstaaten Die Diskussion, ob Marokko, Algerien und Tunesien in die Liste der sicheren Herkunftsstaaten aufgenommen werden, ist so alt wie jene über die Obergrenze. Der Bundestag hat die Aufnahme bereits beschlossen, der Bundesrat dies aber verhindert. Asylbewerber aus solchen "sicheren" Ländern (auf der Liste stehen derzeit die Westbalkanstaaten sowie Ghana und Senegal) sind leichter und schneller abzulehnen. Pro Asyl erinnert daran, dass es in den drei Maghreb-Staaten regelmäßig zu Menschenrechtsverletzungen komme. Die Schutzquote für Flüchtlinge von dort sei gar nicht so niedrig, wie man meinen könnte, sie liege zwischen 5,5 und 11,9 Prozent. Die absolute Zahl der Flüchtlinge aus dem Maghreb ist aber relative klein: Rund 3500 kamen von dort in den ersten acht Monaten dieses Jahres nach Deutschland.

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SZ vom 10.10.2017/eca
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