Flüchtlingspolitik in Europa:Gefangen im existenziellen Ausnahmezustand

Erst der Staat macht einen Menschen zur Person mit einer Identität und bestimmten Rechten. Doch an vielen europäischen Grenzen wird Immigranten der Status als Person verweigert. Die Flüchtlinge fristen ein Dasein als quasirechtlose Unpersonen.

Thomas Steinfeld

An der Grenze zwischen Ventimiglia und Menton, auf einem staubigen Bahnhof an der italienisch-französischen Mittelmeerküste erfuhren am vergangenen Wochenende ein paar hundert Flüchtlinge aus nordafrikanischen Ländern die praktischen Konsequenzen eines Gedankens, den der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel vor zweihundert Jahren so formulierte: "Die Persönlichkeit enthält überhaupt die Rechtsfähigkeit und macht den Begriff und die selbst abstrakte Grundlage des abstrakten und daher formellen Rechtes aus", heißt es im siebenunddreißigsten Paragraphen seiner Grundlinien der Philosophie des Rechts, "das Rechtsgebot ist daher: sei eine Person und respektiere die anderen als Personen".

Flüchtlingspolitik in Europa: Für diesen Flüchtling aus Tunesien endete der Traum vom grenzenlosen Europa in einem Auffanglager auf der italienischen Insel Lampedusa.

Für diesen Flüchtling aus Tunesien endete der Traum vom grenzenlosen Europa in einem Auffanglager auf der italienischen Insel Lampedusa.

(Foto: AFP)

Was bedeutet: Mensch und Person sind nicht dasselbe. Erst der Staat verwandelt Menschen in Personen, indem er ihnen eine Identität verleiht. Er verwandelt sie in Rechtssubjekte, und als solche begegnen sie einander und sich selber. Und es liegt in seiner Gewalt, ob er dies tut oder nicht.

Eine schwarze Mauer der Abwehr

So kam es, dass die Flüchtlinge auf dem Bahnhof von Menton mit Papieren winkten, mit italienischen Aufenthaltsgenehmigungen und manche sogar mit Pässen ihrer Heimatländer, während die französischen Grenztruppen eine schwarze Mauer bildeten, um ihnen den Zutritt nach Frankreich zu verwehren.

"Schaut her", bedeutete dieses Wedeln, "seid Personen und behandelt uns als Personen." Als Menschen wollten sie nicht anerkannt werden, das wäre ihnen (im Unterschied zu den Menschenrechts-Aktivisten, die sie begleiteten) womöglich sogar gleichgültig gewesen. Nur um den Respekt des staatlichen Organs ihnen gegenüber ging es den Flüchtlingen, in Absehung von allem, was sie als Individualitäten ausmachte - denn dieser Respekt hätte aus ihnen Träger von Rechten gemacht, im selben Sinne, wie alle Bürger eines Staates Träger von Rechten sind und auch Bürger anderer Staaten, wenn der Heimatstaat entsprechende Verträge mit diesen anderen Staaten abgeschlossen hat.

"Der Flüchtling", erklärt der italienische Philosoph Giorgio Agamben, "sollte als das betrachtet werden, was er ist: nichts als eine Idee von Grenze." Was auch heißt: Nicht einmal als Mensch erreicht er die Grenze, an der er zurückgewiesen wird, sondern nur als Unperson.

Der Luzerner Historiker Valentin Groebner erzählt in seinem Buch über die Geschichte der Identitätspapiere (Der Schein der Person, München 2004), was diese Nicht-Anerkennung praktisch bedeuten kann: Am Weihnachtsabend 1996 sei ein überladenes Boot voller Flüchtlinge vor Sizilien gekentert, wobei dreihundert Menschen ertranken. Die italienischen Behörden hätten dieses Unglück allerdings jahrelang geleugnet.

"Ein solches Unglück, hieß es offiziell, habe nie stattgefunden. Erst als im Netz eines Fischers von Portopalo ein Exemplar jener erstaunlichen mittelalterlichen Identitäts-Erfindung auftauchte ..., die vom Staat Sri Lanka ausgestellte Identitätskarte des ertrunkenen Anpalagan Ganeshu, siebzehn Jahre alt, der Wahr-Schein seiner Person als Evidenz: Erst dann begannen die Ermittlungen." Denn in diesem Augenblick trat der Ertrunkene nicht mehr als Mensch, sondern als Person auf und damit als Gegenstand zwischenstaatlicher Verhältnisse. Es sind dieselben Verhältnisse, die ihn zu einem Illegalen machen.

Das Missverständnis, man könne sich als Mensch bewegen

Innerhalb Europas, genauer: in den Staaten, die zur Europäischen Union gehören oder eng mit ihr assoziiert sind, hat sich, befördert zuletzt durch das Abkommen von Schengen, ein Missverständnis breitgemacht: dass man sich in diesem Raum (und viele verlassen ihn nie) als Mensch bewegen könne, in einem sozialen Raum, in dem es auf jeden Einzelnen ankomme und jeder als Einzelner anerkannt werde. Dazu gehört die Vorstellung, innerhalb dieser Gemeinschaft werde die Souveränität der einzelnen Mitglieder aufgegeben zugunsten eines alle Staaten übergreifenden Bundes, in dem die Nationalstaaten schließlich aufgehoben werden.

Der Schein wird befördert durch die Erfahrung, dass man Schlagbäume passiert, an denen schon seit Jahren kein Grenzbeamter mehr steht. Die Grundlage dieses Scheins indessen sind Verträge zwischen den beteiligten Staaten, die Rechtssubjekte des jeweils anderen Staates wie die eigenen zu behandeln. Und das geschieht nicht zum Wohle der Gemeinschaft, sondern im Interesse eines jeden Nationalstaats.

Der Schein von Gemeinschaft

Wie schnell es mit dem Schein von Gemeinschaft vorbei sein kann, lehrt gegenwärtig der Umgang Frankreichs und Deutschlands mit den in Italien an den Strand gespülten Flüchtlingen. Denn die italienischen Behörden verwandeln Menschen in Personen - und zwar nicht, wie in der Europäischen Union vorgesehen, indem sie die Flüchtlinge erkennungsdienstlich behandeln, ihre Asylanträge prüfen und schließlich einzeln nach Nordafrika zurückschicken (Massendeportationen sind nach europäischem Recht untersagt), sondern indem sie ihnen befristete Aufenthaltsgenehmigungen erteilen, die sie, für eine Weile zumindest, in europäische Rechtssubjekte verwandeln müssten.

Das sei Vertragsbruch, sagen nun andere europäische Staaten, und während Frankreich den Flüchtlingen schon seine Grenze verschließt, droht der Bayerische Innenminister mit einer Verschärfung der Kontrollen. Die von Italien vergebenen Identitätspapiere werden, an diesem Punkt, nur noch unter verschärften Bedingungen anerkannt, die Rechtsgleichheit unter den Staaten des Schengen-Abkommens ist partiell aufgehoben.

Wer vom Niedergang der Nationalstaaten und ihrer wechselseitigen Konkurrenz spricht, scheint sich getäuscht zu haben.

Im vorvergangenen Jahr erschien ein Buch, das, klüger und anschaulicher als alle vergleichbaren Werke, dazu angetan ist, dem Leser alle Illusionen über das Potential an Gewalt zu rauben, das in staatlichen Identitätszuschreibungen steckt: Der in Venedig lebende Philosoph Wolfgang Scheppe schildert in Migropolis (Stuttgart 2009), wie sich in seiner Stadt die beiden größten Menschenströme der Gegenwart kreuzen: die Touristen aus den wohlhabenden Ländern der Welt, deren Reichtum zu einem großen Teil in weniger erfolgreichen Ländern entsteht, und die Flüchtlinge aus Ländern, die oft so arm sind, dass sie nicht einmal zum Reichtum anderer Länder beitragen können.

"Die Konjunktur des Definierens von Person in den Brutalitäten der Grenzpolitik der Festung Europa beweist den ungebrochenen Fundamentalismus der Koppelung von Blut, Geburt, Territorium und Staat als immer noch gültige Basis für Souveränität und Staatsbürgerschaft. Unter den Bedingungen der Globalisierung ... bedarf dieser Fundamentalismus der permanenten Kontrolle und Abwehr von Grenzüberschreitungen durch das Andere, einem Menschenschlag, der als Person für rechtlos und als Arbeitssuchender für unbrauchbar erklärt worden ist."

Rigorose Trennung von Mensch und Person

Nie, zu keiner Zeit dürfte es politische Verhältnisse gegeben haben, die in der Trennung von Mensch und Person - und in der daraus resultierenden Unterscheidung von Legalen und Illegalen - so rigoros gewesen wären.

In einem berühmten Aufsatz mit dem Titel Jenseits der Menschenrechte, der zuerst im Jahr 1993 in der französischen Tageszeitung Libération erschien, erklärte Giorgio Agamben, der existenzielle Ausnahmezustand, in dem die Flüchtlinge zu leben gezwungen seien, deute auf einen elementaren Widerspruch: Die Menschenrechte gälten als unantastbar, sie seien es aber nicht. Ihre Geschichte sei zugleich die Geschichte ihres permanenten Entzugs, der Entrechtung, der Verfolgung.

Dafür gibt es einen Grund: Menschenrechte setzen Menschen voraus, die, wie es bei Hegel heißt, ein "Dasein als Person" haben. Die Idee der Menschenrechte klingt universell. Aber sie ist mit den Nationalstaaten in die Welt gekommen. Das zeigt sich jetzt: Die Europäische Union kultiviert die Menschenrechtsrhetorik. Wenn aber afrikanische Flüchtlinge mit italienischen Papieren an der französischen Grenze stehen, ist Frankreich Nationalstaat - und lässt sie nicht herein.

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