Süddeutsche Zeitung

Flüchtlingspolitik in Europa:Ein Zaun als Wahrzeichen des Unrechts

Lesezeit: 4 min

Im spanischen Melilla schützt sich Europa mit einem scharfkantigen Zaun vor den Flüchtlingen Afrikas. Doch er hält die Migranten nicht ab, er erhöht nur die Zahl der Toten und Verwundeten. Die Abschreckung am Südrand Europas funktioniert nicht mehr, höchste Zeit, nach neuen Wegen im Umgang mit den Flüchtlingen zu suchen.

Ein Kommentar von Stefan Klein

Der Mensch hat das Bedürfnis, sich abzugrenzen, wobei der Hausbesitzer mit seinem Jägerzaun noch die harmloseste Variante ist. Wenn aber Katholiken in Nordirland eine Mauer hochziehen, nur weil die Nachbarn Protestanten sind, wird es hässlich. Die Amerikaner haben Zäune hingestellt gegen Mexikaner, die Israelis Mauern gegen Palästinenser, die DDR hat eine Mauer quer durch Deutschland gezogen. Letztere ist schon Geschichte, zu Recht, denn alle diese Bauwerke sind Monumente des Scheiterns, Symbole für die Unfähigkeit von Menschen, in Frieden und Freundschaft miteinander auszukommen.

Eine Bankrotterklärung stellt auch der fast zwölf Kilometer lange Zaun um die spanische Exklave Melilla dar. Er besagt nichts anderes, als dass dem angeblich so zivilisierten Europa im Umgang mit Afrika und seinen Menschen nichts anderes eingefallen ist, als ihnen ein abschreckendes und mit messerscharfen Klingen gespicktes Hindernis in den Weg zu stellen. Ein Ding, das Körper blutig schreddert, sobald man versucht, es kletternd zu überwinden, und so wie es aussieht, wird man demnächst versuchen, es sogar noch ein Stück abschreckender und noch gefährlicher zu machen.

Denn am Mittwoch dieser Woche haben es zum zweiten Mal in diesem Jahr mehrere hundert afrikanische Migranten geschafft, zerschunden, aber glücklich über den Zaun nach Melilla und damit ins gelobte Europa zu gelangen. Die Antwort darauf wird vermutlich eine Metallwarenfabrik glücklich machen. Noch mehr Hardware, noch höher das Hindernis; man hatte ohnehin schon damit begonnen, den gewöhnlichen Maschendraht durch einen engmaschigeren Draht zu ersetzen. Der ist so eng, dass menschliche Finger daran keinen Halt mehr finden. Immer mehr Technik. Wie wäre es, wenn man es stattdessen mit dem Gehirn versuchen würde?

Der Schreckenszaun von Melilla muss weg

Man würde dann nämlich sehr schnell merken, dass die Abschreckungsmethode am Südrand Europas nicht mehr funktioniert. Nicht mehr auf dem Mittelmeer, wo dieses Jahr so viele Flüchtlingsboote unterwegs sind wie kaum je zuvor, und auch nicht mehr in Melilla, wo afrikanische Migranten gerade vorführen, dass ihr Wille und ihre Leidensbereitschaft größer sind als der größte Zaun. Da mag einer zwanzig Mal scheitern am Zaun, mag sich immer wieder neu verletzten, mag immer wieder von den marokkanischen Grenzschützern zusammengeprügelt werden, macht nichts, gelingt es ihm eben beim 21. Mal.

Wenn sich eine Methode so offensichtlich als untauglich erwiesen hat, ist es höchste Zeit, nach neuen Wegen zu suchen. Es ist dies umso dringlicher, als der Zaun von Melilla auch ein Wahrzeichen des Unrechts ist. Afrikaner, die den Zaun erreichen, haben Rechte, sie haben das Recht auf Asyl, auf einen Anwalt, auf einen Dolmetscher. Doch wenn sie beim Überklettern von der spanischen Guardia Civil erwischt werden, dann schiebt man sie durch eine Tür im Zaun sofort zurück auf die marokkanische Seite. "Heiße Abschiebung" nennt sich das; es ist dies ein Verstoß gegen internationales Recht.

Dieser Zaun ist ein Zaun der Schande. Weil das kein Zustand sein darf, wird man nicht umhin können, für Afrikas Migranten legale Zuwanderungsmöglichkeiten zu schaffen. Die Vorteile liegen auf der Hand, und zwar für alle Beteiligten. Betrachtet man die demografische Lage im alten Europa, dann sieht man, dass zum Beispiel Deutschland jedes Jahr um 200 000 Menschen schrumpft, Tendenz steigend. Die Nettozuwanderung gleicht das noch nicht mal zur Hälfte aus, es fehlt jetzt schon an Arbeitskräften, qualifizierten, aber auch unqualifizierten, etwa in der Landwirtschaft. Vorteile hätten auch die Migranten sowie die Länder, aus denen sie kommen.

Noch nicht lange her, da sprach man von einem "brain drain", von einem schweren Verlust an Humankapital, wenn junge, fähige Afrikaner sich aufmachten gen Norden. Inzwischen gilt Migration als ein Beitrag zur Entwicklung, und das nicht nur wegen der Milliardenbeträge, die von den Migranten zurück transferiert werden in ihre Herkunftsländer. Mindestens genauso wichtig, sagt der Migrationsforscher Steffen Angenendt, seien die Impulse, die von der Diaspora ausgehen und auf dem Wege des Wissenstransfers hineinwirken in die Länder, aus denen sie kommen.

Win-win-Situation heißt es, wenn alle profitieren, und ein Aspekt kommt noch dazu. Es sind Routen des Todes, auf denen Afrikaner versuchen, Europa zu erreichen. Sie durchqueren Wüsten und Meere, werden dabei begleitet und geknebelt von den Geiern der Schleuserbanden. Das ist reiner Horror, und dass Europa, die Hochburg der Freiheit und der Menschenrechte, dem seit vielen Jahren teilnahmslos zusieht, ist ein Skandal sondergleichen. Würde man legale Zuwanderung ermöglichen, wäre Migration endlich entkriminalisiert, und das sinnlose Sterben auf den Marterpfaden hätte ein Ende.

Die traurige Wahrheit

Doch die traurige Wahrheit ist, dass es in Europa nur eine mangelhafte Flüchtlingspolitik und überhaupt keine Migrantenpolitik gibt. Menschen, die nicht wegen politischer Verfolgung nach Europa kommen, sondern weil sie arbeiten und so der Armut entrinnen wollen, sind zwar immer mal wieder Thema in Sonntagsreden, aber weiter geht es nicht. Die Folgen kennt man: Die Migranten, die es über den Zaun oder das Mittelmeer schaffen, führen bei uns eine äußerst prekäre Existenz als Illegale am Rande der Gesellschaft, ausgebeutet, erniedrigt, mit einem Bein in der Abschiebehaft, im günstigsten Fall geduldet.

Auch das ist ein unhaltbarer Zustand, an dem die bürgerlichen Parteien aus Angst vor den Rechtspopulisten bislang nicht rühren mochten. Nun sind genau diese Rechtspopulisten mit ihrer fremdenfeindlichen Agenda gestärkt aus den Europawahlen hervorgegangen, und es sieht nicht danach aus, als wollten die etablierten Parteien auf diesem Feld die Konfrontation mit ihnen suchen.

Dass Europa schwerfällig ist, ist keine neue Erkenntnis, ein Zustand, der sich wieder und wieder als Problem erwiesen hat - und der Preis dafür ist nicht selten ein hoher. Allein auf dem Meer sollen in den vergangenen 14 Jahren 20 000 Migranten umgekommen sein. Was auf den Trecks durch die Wüste passiert, liegt weitgehend im Dunkeln, aber auch da lassen viele Migranten ihr Leben. Festung Europa, Hochburg der Freiheit und der Menschenrechte, und rundherum überall Leichen - kann es das sein? Der Schreckenszaun von Melilla muss weg, denn den Zweck, den er erfüllen soll, erfüllt er nicht. Er hält die Migranten nicht ab, er erhöht nur die Zahl der Toten, der Verwundeten und Traumatisierten.

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Quelle:
SZ vom 31.05.2014
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