Flüchtlingspolitik in Deutschland:"Zynischer geht es kaum"

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Eine Familie tschetschenischer Asylbewerber im Erstaufnahmelager in Eisenhüttenstadt (Foto: Bernd Settnik/dpa)

Immer mehr Tschetschenen fliehen über Polen nach Deutschland und beantragen Asyl. Doch die Justiz nimmt sie reihenweise in Haft. Das Amtsgericht Eisenhüttenstadt nutzt dafür Schnellverfahren. Der Jurist Andreas Fischer-Lescano erhebt deshalb schwere Vorwürfe: Im Interview erklärt er, wieso Deutschland bewusst gegen internationales Recht verstoße.

Von Ronen Steinke

Eisenhüttenstadt ist "Frontstadt" - in der deutschen Asylpolitik. In dem kleinen Ort an der Ostgrenze Brandenburgs werden sämtliche Flüchtlinge, die über Polen nach Deutschland einreisen, zunächst einmal festgehalten. In diesem Jahr werden dort fast doppelt so viele Flüchtlinge aus dem Osten erwartet wie 2012. Das Amtsgericht Eisenhüttenstadt reagiert rigoros: Den meisten Flüchtlingen wird gleich ein Strafprozess gemacht, weil sie mit gefälschten Papieren oder ohne Visum eingereist sind. Das Amtsgericht Eisenhüttenstadt fertigt die Fälle im Akkord ab. Anwälte klagen über einen teils barschen Ton der Urteile. Der Jurist Andreas Fischer-Lescano, der in Bremen Migrationsrecht lehrt, hat einige dieser Urteile unter die Lupe genommen.

SZ.de: Herr Fischer-Lescano, im Juli haben Sie einer Strafrichterin, die in Eisenhüttenstadt reihenweise Flüchtlinge wegen unerlaubter Einreise verurteilt hatte, Rechtsbeugung vorgeworfen. Ein harter Vorwurf. Die Staatsanwaltschaft hat jetzt die Ermittlungen gegen die Richterin eingestellt. Haben Sie überzogen?

Andreas Fischer-Lescano: Nein. Dass die Ankläger in der brandenburgischen Justiz nicht eine Kollegin vor den Kadi stellen wollen, ist menschlich begreiflich. Korrekt ist es aber nicht.

Rechtsbeugung, das heißt: Ihrer Ansicht nach ist die reihenweise Verurteilung von Flüchtlingen aus dem Osten offen illegal.

Die brandenburgischen Urteile sind ja teils öffentlich geworden. Ob das unseren Vorstellungen von Rechtsstaatlichkeit entspricht, kann jeder selbst beurteilen.

In den Urteilen, über die Sie sich beschwert hatten, hieß es etwa, harte Strafen für Flüchtlinge müssten aus Gründen der Abschreckung sein. Die Zahl der Flüchtlinge aus Russland ist in letzter Zeit deutlich angestiegen.

Gerade an dieser Stelle ist die Rechtswidrigkeit der Strafurteile wirklich offensichtlich.

Ist Abschreckung denn kein legitimes Ziel von Gerichten?

Die Basis für eine Strafe muss immer die persönliche Schuld sein. Und das ist das Problem: Schon diese Basis fehlt. Die Genfer Flüchtlingskonvention verbietet es ausdrücklich, Einreiseverstöße bei Flüchtlingen zu bestrafen. Dem Amtsgericht Eisenhüttenstadt ist das nicht einmal eine Erwähnung wert - stattdessen werden Flüchtlinge hier systematisch wegen illegaler Einreise in Haft genommen. Eben zur Abschreckung, wie es dann heißt. In vielen Fällen sind Textpassagen in den Urteilen auch identisch - ein klarer Fall von Copy and Paste. Auch daran zeigt sich schon, dass hier die persönliche Schuld der Angeklagten nicht hinreichend geprüft wird.

Was würden Sie von den Juristen in Eisenhüttenstadt erwarten?

Das deutsche und das europäische Recht schreiben vor, dass Flüchtlinge für die Dauer ihres Asylverfahrens in Aufnahmeeinrichtungen unterzubringen sind. Darüber geht die Praxis leider seit Jahren hinweg. Es gibt einen unseligen Erlass des Bundesinnenministers aus dem Jahr 2006: Er ordnet an, dass die Bundespolizei aufgegriffene Flüchtlinge von vornherein nicht wie möglicherweise berechtigte Asylbewerber, sondern gleich wie illegale Einwanderer behandelt. Also werden sie nicht erst zur Prüfung in eine Aufnahmeeinrichtung gebracht, sondern direkt in Haftanstalten zur Vorbereitung von Strafverfahren und Abschiebung.

Aber das geschieht doch nicht in jedem Fall.

Immer dann, wenn der Flüchtling bereits in einem anderen EU-Land einen Asylantrag gestellt hat.

Klingt nach "Dublin II" - dem europaweiten Grundsatz, wonach Flüchtlinge immer nur in dem Land Asyl beantragen dürfen, in das sie zuerst einen Fuß gesetzt haben.

Dieses Prinzip von "Dublin II" entbindet die deutschen Gerichte aber nicht von der Pflicht, genau zu prüfen. Darauf hat jeder Asylbewerber in Deutschland ein Recht, wie der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte und auch der Europäische Gerichtshof dies wiederholt klargestellt haben. Auch wenn ein Flüchtling schon in Polen einen Asylantrag gestellt hat, heißt das nicht, dass er dort nach rechtsstaatlichen Maßstäben wirklich eine Chance bekommen hat. Zumal gerade die polnischen Asylverfahren an so systematischen Mängeln leiden, dass dort die europäischen Mindeststandards unterschritten sind, wie eine Gruppe internationaler Menschenrechtsbeobachter unlängst in einer größeren Untersuchung festgestellt hat. Deutsche Gerichte müssen also sehr genau hinsehen - und nicht einfach nur schematisch urteilen.

Flüchtlinge werden in Eisenhüttenstadt vielfach in Schnellverfahren verurteilt.

Diese Schnellverfahren sind vom Gesetzgeber eigentlich für Fälle vorgesehen, bei denen der Sachverhalt und die Rechtslage wirklich einfach sind. Davon kann in Eisenhüttenstadt keine Rede sein: Die Richter müssten Fluchtwege rekonstruieren, Fluchtgründe ermitteln und die Voraussetzungen der Genfer Flüchtlingskonvention und des Europarechts prüfen. All dem kann in einem 10-Minuten-Verfahren keinesfalls Rechnung getragen werden.

Sind die deutschen Gerichte im Grenzgebiet nicht einfach überlastet?

Mag sein, aber das darf kein Argument sein, um den Rechtsstaat auszuhebeln.

In einigen Urteilen aus Eisenhüttenstadt stand die Formulierung: Die Flüchtlinge seien "Asyltouristen".

Ja, zynischer geht es kaum. Flüchtling zu sein heißt alles aufgeben, eine neue Existenz suchen, unter Einsatz der Existenz ein neues Leben beginnen. Das ist das Gegenteil von Tourismus.

Sie weisen auch auf ein Urteil hin, in dessen Begründungstext die Richterin vor einem "Heer der Illegalen" gewarnt hatte.

Auch das ist eine Formulierung, die in einem Rechtsstaat inakzeptabel ist. Der Satz "Kein Mensch ist illegal" ist ja nicht nur ein politisches Statement linker Flüchtlingsfreunde - sondern gibt ganz einfach die Rechtslage in Deutschland wider. Menschen sind nicht illegal. Die Verhältnisse weisen ihnen möglicherweise einen problematischen aufenthaltsrechtlichen Status zu, das macht aber den Menschen nicht illegal. In einem juristischen Urteil darf so etwas nicht stehen.

Ist die Rechtsprechung in Eisenhüttenstadt da wirklich außergewöhnlich?

Ich beschäftige mich seit Jahren mit Migrationsrecht und in diesem Bereich ist vieles möglich, was meine zivilrechtlichen Kollegen für unvorstellbar halten. Aber die Urteile aus Eisenhüttenstadt haben doch eine besondere Dimension. Das habe ich bislang für unvorstellbar gehalten.

Linktipp: Ein Bericht des ARD-Magazins "Report Mainz" über die "gnadenlose Justiz" in Eisenhüttenstadt ist hier verfügbar.

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